Jakob Jud an Hugo Schuchardt (64-05196)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

16. 09. 1919

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (64-05196). Unbekannt, 16. 09. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8544, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8544.


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16.IX.19.

Lieber Meister;

Ihre drei Karten sowie der Brief vom 6 IX sind mir zugekommen1 und trotz des schweren Inhalts danke ich Ihnen recht herzlich. Sie brauchen sich gewiss keine Skrupel zu machen: ich fühle mich vorläufig stark genug, um Ihren Kummer in mich aufnehmen zu können und ihn auch zu teilen. Gewisse Gedankengänge stehen mir ja ferne, aber anderen bin ich ja durchaus zugänglich und vermag sie voll und ganz zu verstehen: in den Bewertungen gewisser Ereignisse werden wir kaum völlig einiggehen können, weil das Milieu und – nolens volens – unser verschiedenes Alter und Temperament hier eine Rolle spielen. So teile ich keines- |2| wegs den Glauben, dass dank der Kugel eines Attentäters der Versailler Friede anders ausgefallen wäre, dann, wenn Sie den Verhandlungen der französ. Kammer folgen könnten, wäre es unschwer zu sehen, dass es der autoritären Macht Clemenceaus einzig zu verdanken ist, dass starke Abstriche am französ. Minimalprogramm gemacht worden sind, die ein anderer nicht gewagt hätte.2 – Wir haben jahrelang dem tollen Machthunger franzosenfeindlicher Annexionisten in Deutschland zusehen müssen – lesen Sie die Zusammenstellung der von den grossen wirtschaftlichen Vereinigungen Deutschlands eingereichten Eingaben hinsichtlich der Annexion ganz Nordfrankreichs Belgiens, Polens und der Colonien von Grumbach zusammengestellt,3 gegen welche nicht einmal in der sozialistischen Partei Deutschlands Front gemacht wurde, – so dass wir das bodenlose Mis[s]trauen der Entente einigermassen verstehen, nicht aber billigen können. |3| Und es bleibt doch die Tatsache, dass die österr. Deutschen wie die Magyaren nach Aussen als die festesten Stützen dieser „lothringischen“ Dynastie auftraten. Aber Sie lesen, verehrter Meister, zu sehr gewisse österreichisch-deutsche Blätter wie die Grazer Tagespost; wer die Stimmen von den roman. Ländern auszuhorchen sich bemüht, der kann sich der Überzeugung nicht erwehren, dass überall Kräfte am Werke sind, den menschlichen Solidaritätsgedanken gegenüber Hass und Verachtung aufrechtzuerhalten. Es giebt doch unbestreitbare Symptome: Deutschland wird am Gewerkschaftscongress in Washington teilnehmen,4 trotzdem seine Ausschliessung beantragt und beschlossen war. Henderson, der Führer der englischen Demokratie und der europäischen Verständigung, wird in einem gutbürgerlichen Wahlkreis Englands zum Deputiertn gewählt.5 In Genf errichtet das amerikanische |4| Rote Kreuz eine Stiftung (von 25 Mil. Frk.), die bestimmt sein soll, international (Deutschland und Oesterreich natürlich inbegriffen) die Bekämpfung der Epidemien an die Hand zu nehmen. Ich möchte Ihnen eine Anzahl von Maturaaufsätzen unserer jungen Schweizer zu lesen geben, um Ihnen zu zeigen, welch tiefer Abscheu sie erfüllt vor Ludendorffs Gewaltmethoden wie vor Gewaltfrieden: Sie würden zu hoffen wagen, wenn Sie sehen, mit welchem Schwung die Jungen an den Aufbau Europas gehen wollen. Haben Sie den Aufruf der Gruppe „Clarté“ in Frankreich gelesen?6 Ich habe nie von einem solchen gehört „au lendemain de la paix de Francfort“ in Deutschland.7 Nein, lieber Meister, es gilt zu glauben und zu vertrauen, nicht zu verzweifeln: wenn die Deutschen in Tschechoslowakien oder in Polen sich nicht selbst so viel Selbstbehauptungs- |5| energie zumuten, dass sie unter dem Schutze der Sicherheitsbestimmungen für Minoritäten ihre Rechte zu wahren wissen, dann muss ich sie allerdings bedauern! Mit einem Rückhalt am deutschen Reich, mit Schulen und straffem Kulturbewusstsein sollte man dasselbe leisten können was Tschechen und Polen in viel geringerer Zahl fertiggebracht haben. Für italienischen Imperialismus habe ich nie „ästhetische“ Gründe vorgebracht: ich habe ihn vor 3 Jahren mit derselben Entschiedenheit in meiner Broschüre gegen Salvioni abgelehnt8 wie ich den Ludendorffschen für verderblich und unheilvoll betrachtet habe. Merkwürdig bleibt mir nur das eine: dieselben Kreise in Deutschland, die über den Imperialismus der Entente wettern, halten vor dem Erzannexionisten Ludendorff & Cie den schützenden Schild, als ob die Herren Götter wären! |6| Aus der europäischen Not hilft uns nur Erweckung und Betätigung europäischer Solidarität: sie wird kommen trotz allen Spöttern und Zweiflern!

Prof Bovet ist gegenwärtig viel unterwegs: er steht mit der ganzen Macht seiner Persönlichkeit für den Völkerbund in Versammlungen ein.

In der Tat sehe ich in stets reichlicherem Materiale einen der besten Wege zu Vertiefung unserer Forschung. Diez wandelte in einem „Paradies“, das ich nicht teilen möchte, denn zuviel Fragezeichen standen an allen möglichen Wegkreuzungen. Mich käme oft die Lust an, die älteren Artikel von G Paris, Salvioni, Ascoli und Schuchardt unter Berücksichtigung neuer Gesichtspunkte und reicheren Materialien kritisch zu prüfen: ich |7| mich stets dessen gefreut, dass doch in manchen Punkten dem Problem neue Ausblicke entlockt werden konnten. – Meine Arbeit über die bündnerischen Kirchenwörter ist nun in die Druckerei gewandert:9 Ende Oktober hoffe ich Ihnen ein Separatum senden zu können; ich bin gespannt, was Sie dazu sagen!

Über Ihre Beziehungen zu Tobler haben Sie mir nicht berichtet!10

Darf ich Ihnen das Buch von Dauzat: Les argots des métiers francoprovençaux zusenden?11 Sagen Sie mir ganz offen, ob das Werk zu interessieren in der Lage ist, ich schicke Ihnen so gerne was möglich ist. Das neapolitanische pux12 vermag ich nicht aufzutreiben. Ich bemerke stets, dass Sie trotz Ihrer „Abgeschiedenheit“ mehr kennen als ich: weder von der schwed. Arbeit über „Kindernamen“13 noch von der Untersuchung von Menéndez Pidal14 war mir etwas zu den Ohren gekommen.

|8| Leben Sie wohl, verehrter Meister, ich wünsche Ihnen – trotz all Ihren Abmahnungen – einen milden Herbst und mit mir frohes Hoffen.
Ihr stets Ihnen zugetaner Jünger

Jud


1 Keines dieser Korrespondenzstücke ist erhalten.

2 David Robin Watson, Georges Clemenceau, a political biography , Plymouth: Eyre Methuen, 1974; Michel Gandemer, Georges Clemenceau , La Crèche: La Compagnie du Livre, 2018.

3 Samuel Grumbach, Das annexionistische Deutschland; eine Sammlung von Dokumenten, die seit dem 4. August 1914 in Deutschland öffentlich oder geheim verbreitet wurden; Annexionistische Kundgebungen , Lausanne: Payot, 1917.

4 The International Federation of Trade Unions wurde 1919 gegründet, tagte aber 1920 in London und 1922 in Rom.

5 Nevile Henderson (1882-1942), englischer Diplomat, der mehrere Botschafterposten bekleidete.

6 Die Gruppe mit diesem Namen wurde von Romain Rolland und Henri Barbusse als Friedensbewegung linker Intellektueller gegründet; vgl. Eva Kolinsky, Engagierter Expressionismus; Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften , Stuttgart: Metzler, 1970, passim.

7 Der Friede von Frankreich (10.5.1871) beendete den Deutsch-französischen Krieg 1870/71. Jud will vermutlich andeuten, dass es danach keine Initiativen deutscher Intellektuller zu einer Aussöhnung mit dem besiegten Frankreich gab.

8 Jud, „ Ist das Bündnerromanische eine italienische Mundart? “, Bündnerisches Monatsblatt 1917, 129-143. Auf S. 131f. setzt sich Jud kritisch mit Carlo Salvionis Ladinia e Italia. Discorso inaugurale letto l’11 gennaio 1917 nell’adunanza solenne del R. Istituto Lombardo di Scienze e Lettere , Pavia 1917 auseinander. Auf S. 140 werden Salvionis Italianisierungsbestrebungen kritisiert und mit „mehr oder weniger verhüllten Annexionsplänen des Etsch- und damit des Münstertals“ in Verbindung gebracht.

9 Jud, „ Zur Geschichte der bündnerromanischen Kirchensprache “, 49. Jahresbericht der historisch-antiquarischen Gesellschaft von Graubünden 1919, 1-56.

10 Vgl. Anhang zu Brief 18 (24.10.1919).

11 Albert Dauzat, Les argots de métiers franco-provençaux , Paris: H. Champion, 1917 (Ecole Pratique des Hautes Etudes / Section Sciences Historiques et Philologiques: [Bibliothèque de l'École des Hautes Études / 4]; 223).

12 Lesart unsicher, möglicherweise auch pusç?

13 Ivan Pauli, s. u.

14 Ramón Menéndez Pidal, Documentos linguísticos de España . 1. Reino de Castilla, Madrid 1919.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05196)