Jakob Jud an Hugo Schuchardt (58-05193)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

20. 05. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Erster Weltkrieg Lanson, Gustave (1912) Schuchardt, Hugo (1906) Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992)

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (58-05193). Unbekannt, 20. 05. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8538, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8538.


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20.V.19

Verehrter Meister!

Warmen Dank schulde ich Ihnen für Ihren ausführlichen Brief, ferner für die beiden Karten (1. verspätet, 2. heute eingetroffen),1 die mich zur sofortigen Beantwortung Ihrer Zeilen aufrüttelten. Ich habe am Gymnasium 18 Stunden wieder übernehmen müssen (darunter drei Maturaklassen), an der Hochschule sind 4 Stunden zu bewältigen: Sie müssen mir also etwas nachsehen, wenn ich nicht stets so rasch antworten kann wie es meine elementarste Pflicht wärde. Dass die Weltereignisse auch erschwerend sich gelten machen, dürfen Sie mir glauben.

Unsere Diskussion hinsichtlich der Umstellung der Arbeit und des Zieles bei den deutschen Romanisten möchte ich nicht in dem Sinne weiterführen, |2| als ob ich nur das Tadelnswerte östlich des Rheins, das Lobenswerte westlich des Rheins fände. Aber eines ist mir doch immer klar geworden: unsere Neusprachler – die Vermittler einer fremden Geistesart an den Mittelschulen – hatte die Universität durchaus ungenügend ausgebildet. Erste Pflicht hätte darin bestanden, Leute von diesem Beruf wegzuweisen, die innerlich sich nicht mit fremdem Empfinden und andersgearteten Anschauungen vertraut machen können noch wollen: über diese Categorie von Brotkorb-Neusprachlern habe ich bereits im letzten Brief mich ausgelassen. Dann aber musste die Univ. nicht sich damit begnügen, Semester um Semester Altfranzösisch und Littgeschichte zu lesen: sondern hätte gerade der Diskussion und Klärung jener Fragen bedurft, die die modernen Nationen scheiden. |3|Ich habe mich manchmal bitter geärgert zu sehen, wie leidenschaftlich diskutierte Fragen wie: Elsass-Lothringen, Volk & Staat, Individuum & Staat, Presse & Individ., nie sich einen Platz eroberten weder in den Diskussionen der Neuphilologen noch in den Seminarien der Universitäten. Ist denn z B ein wirklicher Neuphilologe in einer obersten Gymnasialklasse nur dazu berufen, Erckmann-Chatrian2 zu lesen? Sollte er nicht einmal in klarer Form sich über eine Anzahl Fragen äussern, in denen das vom Lehrer vertretene fremde Volk in seinen Anschauungen und Problemstellungen von den unsrigen völlig abweicht? Ist ein Neuphilologe nicht dazu berufen, den Horizont seiner Schüler zu erweitern? Ich lese mit 2 Klassen ein Buch von Barret Wendel: La France d’aujourd’hui (Nelson):3 ein von einem Amerikaner geschriebenes gescheites Buch, das anschaulich den Standpunkt eines „Fremden“ gegenüber der franz. Kultur |4| wiedergiebt. Mit einer dritten Klasse lese ich Barbusse, La clarté4 und freue mich der modernsten Probleme, die in der Schule zur Diskussion gelangen. Aber warum scheut sich die Universität, ins volle Leben des gegenwärtigen Italien oder Frankreich hineinzugreifen? Wir vertrinken im Historismus: unsere Hochschul- wie Mittelschullehrer lesen mit grösser[er] Sicherheit einen altfranzös. Text als einen Roman von 1910: unsere europäische Misere des Nichtverstehens erklärt sich daraus, dass wir die Gräber der Vorfahren unserer Nachbarn studierten und darob die Lebenden nur zu oft vergassen: dass wir unsere Augen zu halbverloschenen Sternen hinaufrichteten, statt den hellflimmernden nachzugehen. Mit einem Wort: wir sind oft in den wissenschaftlichen Betrieb – Grossbetrieb mit 200 Studenten! – hineingeraten statt einzelne Menschen für ihren Lebenslauf innerlich vorzubereiten. |5| Wir haben an der Masse des Stoffes, statt an deren Qualität uns gefreut, wir glaubten, dass „je ferner die Kulturerscheinung unserer Zeit entrückt sei“ um so grössere Objektivität erreichbar werde, als ob nicht auch in demselben Masse das lebendige Interesse des heutigen Menschen für diese uns fremd gewordenen Phänomene abnehmen müsste. Und da muss ich nun schon gestehen, dass die französischen Germanisten, die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte in jeder Beziehung das moderne Deutschland besser kannten als die deutschen Neuphilologen Frankreich. Man stelle sich doch einmal gewisse ältere Romanisten vor, die romanische Rede und Litteratur wie altgriech. und römische lehrten als ob Frankreich & Italien nicht heute noch kräftig am Leben wären. Doch nun basta: ich weiss, dass Sie mich wohl verstehen, wenn ich auch nicht hoffen darf, in allen Punkten Ihre Billigung zu finden.

|6| Ich höre Ihren Einwand: die Universität ist Forschungsinstitut, nicht Lehrerausbildungsanstalt. Ich bin eher geneigt zu behaupten, die Univ. ist immer mehr Fachschule geworden und hat an ihrer Bedeutung als wissenschaftl. Forschungsstätte verloren, seitdem sie die systematische Darstellung der einzelnen Capitel oder Disziplinen als ihr Hauptziel verfolgt. Ich habe Studenten getroffen, die nie einen Artikel Ascolis oder Lansons5 gelesen haben: das Collegienheft war ja völliger Ersatz: der Contact mit grossen Forschern war nutzlos geworden. Aber nun will ich schließen: die Kritik, die mich ebensosehr trifft wie andere, ist ja viel leichter als das Bessermachen!

Den Artikel des Journal de Genève lasse ich Ihnen von Genf aus direkt zukommen. Ferner sende ich Ihnen zu 1) die Arbeit Gilliérons 2) das letzte Heft von Wissen und Leben, mit dem Leitartikel von Prof |7| Bovet, der ziemlich getreu meinen Standpunkt in der Friedensfrage wiederspiegelt.6 Nyrops Verhimmelung7 steht mir durchaus ferne: aber das hindert mich nicht zu glauben, dass die deutschen leitenden Stellen schon gegenüber ihren eigenen Volksgenossen die Pflicht hätten, für allersauberste Aufklärung hinsichtlich der Ereignisse vom Juli 1914 zu sorgen. Tritt durch Veröffentlichung der gesammten Dokumente die Mitschuld Englands-Frankreichs am Willen zum Kriege 1914 zu Tage, um so besser für Deutschland! Dann werden auch in den Westmächten Kräfte dafür eintreten, dass die Verantwortlichen zur Strafe herangezogen werden. In Frankreich wurde Bazaine vor [ein] Kriegsgericht gestellt,8 in Deutschland erfreuen sich die leitenden Führer des Débâcle der grössten Hochachtung. Da liegt die merkwürdige verblüffende Tatsache, über die der Ausländer nicht klug wird.

|8| Aber nun Schluss! – Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Sie uns noch den zweiten Teil des Romanobaskischen schenken, den wir nach dem Beiheft der Zeitschrift immer noch erwarten dürfen.9 Und Sie dürfen, verehrter Meister, dasjenige Forschungsfeld nicht im Stiche lassen, auf dem Sie stärkeres Echo gefunden haben als irgend ein Deutscher seit Diez. Ihre Forschung und Ihre Problemstellung sind nicht österreichisch noch deutsch noch europäisch, sondern Ihre ganze Arbeit ist dem Suchen nach den tiefsten Gründen sprachlichen Seins und Werdens geweiht: eine solche Arbeit kennt keine Grenzen, sie adelt den Menschen, den wir lieben müssen, ober er südlich oder nördlich der Alpen wohnt. Und so rufe ich aus voller Überzeugung: Europa muss sich wieder finden. Sie aber dürfen als Altmeister dieser europäischen Wissenschaft uns in der Not nicht im Stiche lassen!

Warmen Gruß &
Wünsche v. Ihrem

Jud10


1 Vermutlich Brief 14 (5.4.1919 [nicht 3.4., wie Heinimann angibt]); beide PK verloren.

2 Émile Erckmann (1822-1899) und Alexandre Chatrian (1826-1890), französisches Autorenteam aus Lothringen, Verfasser von populären Romanen und phantastischen Erzählungen; nach dem Krieg von 1870/71 mit antideutscher Tendenz.

3 Barrett Wendel, La France aujourd’hui . Traduction de Georges Grappe, Paris: Nelson, [1909].

4 Henri Barbusse, Claré. Roman , Paris: Flammarion, 1919.

5 Gustave Lanson (18571934), franz. Romanist, Verf. einer der am meisten benutzten und gelesenen Literaturgeschichten, die immer wieder aufgelegt wurde: Histoire de la littérature française, 1894. Seine Vorgehensweise wurde als lansonisme sprichwörtlich.

6 Bovet, „ La paix intelligente “, Wissen und Leben 21, 1918, 104f.; „Encore la paix intelligente“, 40f.; „La paix provisoire“, 465f.

7 Kristoffer Nyrop (1858-1931), dänischer Romanist, mit Schuchardt befreundet, aber im Ersten Weltkrieg scharfer Kritiker der deutschen Politik, dessen Schriften in mehrere Sprachen übersetzt wurden, z. B. The imprisonment of the Ghent professors, a question of might and right; my reply to the German legation in Stockholm , London-New York, 1917.

8 François-Achille Bazaine (1811-1888), Marschall von Frankreich, kapitulierte am 27.10.1870 mit ca. 170000 Soldaten in der Festung Metz und wurde deswegen vor ein Kriegsgericht gestellt, zum Tode verurteilt, degradiert, aber zu zwanzigjähriger Haft begnadigt.

9 Der 1. Teil war 1906 erschienen (Beiheft 6 zur ZrP). Später erschienen nur noch Miszellen.

10 Heinimann, 1992, Nr. 17, 26-27 (stark gekürzt).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05193)