Hugo Schuchardt an Jakob Jud (54-HSJJ12)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Unbekannt

16. 02. 1919

language Deutsch

Schlagwörter: Technische Hochschulen Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität)language Arabischlanguage Berberisch Schuchardt, Hugo (1918) Gilliéron, Jules (1918) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1919) Hausmann, Frank-Rutger (2016) Spitzer, Leo (1919)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (54-HSJJ12). Unbekannt, 16. 02. 1919. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8534, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8534.


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16.2.19.
(großer Wahltag)1

Lieber Freund,

Ich habe gerade an Cornu (Riant-Port, Vevey) einen Glückwunsch zu seinem 70. Geburtstag geschickt und so liegt es mir nahe, auch Sie mit einem Briefe zu bedenken. Ihr letzter ist vom 29. Juli v. J.; auf ihn habe ich geantwortet,2 zugleich mit der Zusendung meiner Abhandlung über die rom. Lehnw. im Berb.3 Seither habe ich nichts von Ihnen zu sehen bekommen, mit Ausnahme des Aufsatzes von Meillet, wofür ich nach beiden Seiten sehr dankbar bin. Ich entsinne mich dunkel, daß ich das und jenes von Ihnen erwartete, z. B. die hochgepriesene Arbeit von Gilliéron |2| über abeille.4 Ich bin, was Litteratur anlangt, vereinsamter als je; auch deutsche Bücher gelangen nur mühsam zu mir, sogar von Wien aus bekomme ich dort Erschienenes nur mit beträchtlicher Verspätung. So würde ich denn, wenn das nicht schon durch mein Alter geboten wäre, aus der Romania ausscheiden müssen. Ich wiederum habe bisher kein Mittel gefunden, Exemplare meiner berberologischen Arbeit an diejenigen zu senden die durch die Kenntnis des Berberischen zu ihrer gründlichen Benutzung befähigt sind, Basset,5Doutté6 usw. Ich treibe, soweit man überhaupt bei mir von „treiben“ reden kann, „Allotria“. Meine lange Besprechung von Spitzers Anti-Chamberlain im Ltbl.7 konnte ich Ihnen nicht zugehen lassen, da die mir bestimmten Sonderabzüge in Verstoß geraten waren. Im Jänner-Februarheft des Ltbl., also binnen Kurzem wird eine noch viel längere Anzeige von Spitzers Fremdvölkerhaß und Fremdwörterhatz8 erscheinen, die im Grunde ein Aufsatz über die Fremdwörterfrage ist, worin ich auch einige oberflächliche Kenntnis des Schwyzerdütsch verrate. [die Neue Zürcher Zeitung halte ich mir nicht mehr – durch ein Versehen der Post war sie längere |3| Zeit ausgeblieben, und da verzichtete ich dann ganz, erst mir zum Leid, jetzt ist es mir lieb, ich bin froh manchmal nicht an Politik erinnert zu werden. Wenn Sie etwas hineinschreiben sollten, gedenken Sie meiner]. Spitzer hat sich wie Sie schon wissen vor einem halben Jahr in Bonn habilitiert, und scheint dort – durch ein Privatdozentenstipendium gebunden zu sein; er wird demnächst, „sans enthousiasme“ dünkt mich, dorthin abreisen. Wie werden sich unsere Universitätsverhältnisse in nächster Zukunft gestalten? Von allen Seiten reckt sich der Arm des Imperialismus gegen uns. Ich kann einem Gerüchte nicht auf den Grund gehen das ganz unwahrscheinlich ist: Hoepffner gehe nach Straßburg oder sei schon dorthin gegangen. Wenn er auch, wie ich vermute, (er steht nicht im Kürschner), Elsässer wäre, so würde er doch deshalb nicht in das besetzte Elsaß berufen worden sein.9 Über Morf habe ich Ende vorigen Jahres bei Urtel10 und meinem Freunde Haberlandt (Botaniker)11 Nachrichten eingeholt, die gleichermaßen ungünstig lauten. Er tut mir zu leid, und die Familie! Da ich jetzt meine über Jahr und Tag ausgeruhte baskologische Arbeit wieder aufgenommen habe, so werde |4| ich wieder einmal an Urtel schreiben; vielleicht kann ich ihm nützlich sein.

Einen Punkt, der mir von jeher am Herzen gelegen hat, möchte ich hier nur kurz berühren. Sie meinen, ich hätte übersehen (in einem Zeitschrift-artikel), daß G. Paris „in einigen das heilige Feuer geweckt habe“. Ich bin gerade der Ansicht daß das sein Hauptverdienst ist, in dem Sinne muß ich Ihnen geantwortet haben, und deutlich habe ich es seither Ltbl. 1918 287 ausgesprochen.12 Über das, was unter „Schüler von Jem. sein“ zu verstehen ist, habe ich neuerdings mit Spitzer verhandelt (der über „Demokratisierung der Universitäten“ geschrieben hatte;13 ich stimmte bei unter der Bedingung einer vorhergehenden „Rationalisierung“). Und kürzlich fragte mich ein Kollege von der medizinischen Fakultät: „wie kommt es eigentlich daß Sie keine Schüler gehabt haben (im Vergleich zu Meyer-Lübke)?“ Ich konnte ihm das glücklicherweise auf medizinischem Wege begreiflich machen: meine Neurasthenie, insbesondere die charakteristische Leichtermüdbarkeit, erschwerte mir ungemein anhaltendes Sprechen, machte mir meistens die ¾ Stunden des akademischen Vortrags zur Qual – ich konnte nicht, außer in der Wechselrede – voce viva lehren. Aber ich habe nie begriffen warum man nicht ebenso gut durch das Auge wie durch das Ohr in das Gehirn des Schülers eindringen könnte. Usw. Usw. Ich breche ab.

Ich hoffe demnächst von Ihnen zu hören daß es Ihnen gut geht und daß man in der Schweiz erkennt daß neben den Hunnen der U-boote sich die archi-huns der (vorher begonnenen) Blokade stellen, mit den glänzenden Erfolgen von 800,000 Opfern der Hungersnot usw.

Herzlichst Ihr
H. Schuchardt


1 Die am 16. Februar 1919 gewählte Konstituierende Nationalversammlung für Deutschösterreich war das erste von Frauen und Männern in freier und geheimer Wahl berufene Parlament in der Geschichte des Landes.

2 Hier Brief 12.

3 Schuchardt, „Die romanischen Lehnwörter im Berberischen“, SB d. Wien. Ak. 188, IV, 1918, 1-82.

4 Jules Gilliéron, Généalogie des mots qui ont désigné l'abeille d'après l'Atlas linguistique de la France, Paris: Champion, 1918.

5 René Basset (1855-1924), franz. Orientalist, Spezialist für Arabisch und Berberisch; vgl. HSA 00555-00569.

6 Edmond Doutté (1867-1926), franz. Islamist, Prof. in Algier; vgl. HSA 02623.

7 Schuchardt, „ [Rez. von:] Leo Spitzer, Wien, Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains “Kriegsaufsätze” und die Sprachbewertung im allgemeinen“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 281-287.

8 Schuchardt, „[Rez. von:] Leo Spitzer, Fremdwörterhatz und Fremdvölkerhass. Eine Streitschrift gegen die Sprachreinigung“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 40, 1919, 5-20.

9 Schuchardt ist richtig informiert über Hoepffners Abgang nach Straßburg; vgl. Frank-Rutger Hausmann, „ Elsässische Romanistikprofessoren vor und im Ersten Weltkrieg (mit einem Anhang einschlägiger Dokumente)”, Romanische Studien 4, 2016, 429-458.

10 Vgl. den Briefwechsel Urtel-Schuchardt (HSA 12252-12313).

11 Gottlieb Haberlandt (1854-1945), österr. Botaniker, von 1888-1910 an der TH Graz, danach an der Univ. Berlin; vgl. HSA 04296-04306.

12 Schuchardt, „[Rez. von:] Leo Spitzer, Wien, Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains “Kriegsaufsätze” und die Sprachbewertung im allgemeinen“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 281-287. Das läßt sich aus dieser Rez. wirklich nicht ableiten („wie ja nach schwedischer Sprachsitte z. B. Gaston Paris ein lärjunge von Diez war“).

13 Spitzer, in: Die WageXXII, 1, 1919, 80-86.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ12)