Hugo Schuchardt an Jakob Jud (53-HSJJ11)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

22. 09. 1918

language Deutsch

Schlagwörter: Dreyfus-Affäre Société Jean-Jacques Rousseau (Genf) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1919) Schuchardt, Hugo (1916) Gilliéron, Jules (1918) Schuchardt, Hugo (1916)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (53-HSJJ11). Graz, 22. 09. 1918. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8533, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8533.


|1|

Graz, 22. Sept. 18.

Lieber Freund!

Ich danke Ihnen vielmals für Ihren Brief vom 29. v. M. nebst Nachkarte vom 31 und schicke Ihnen zugleich mit einem Stück „Sprachverw.“ einen der erst jetzt in meine Hände gelangten SA [* sie sind ungeheftet – der Mangel an Spagut1 wie verschiedenem anderem!] von Die rom. Lehnw. im B.,2 von welcher Abhandlung ich übrigens eine Selbstanzeige (lediglich zur Orientierung der Romanisten) ins Ltbl. schreiben werde.3 Die beiden Aufsätze von Rütimeyer4 sind gestern eingetroffen; ich habe sie vorderhand nur flüchtig angeschaut, aber mit grösstem Interesse; und ihm meine Akademieabhandlung geschickt [bei den m-wörtern für Rind, die Sie zu S. 34 geliefert haben – lautnachahmend? – ist mir schwäb. muni Zuchtstier eingefallen, das ich, für meinen Privatgebrauch, mit kabyl. i-mun-an junge Ochsen zusammengestellt hatte]. Bei dieser Gelegenheit wurde ich wieder einmal verdrießlich darüber daß über das Persönliche deutsch-schweizerischer Gelehrter sich nichts erfahren läßt, weil sie – was ich ja zu würdigen verstehe – sich |2| in den deutschen Kürschner5 nicht einbuchen lassen mögen, einen schweizerischen es aber noch nicht gibt – ich las vor einiger Zeit von einem solchen in der N.Z.Z., aber als etwas Mißlungenes oder erst Geplantem.6

Ich beantworte Ihre Fragen bezüglich G. Paris. Über G. Paris Stellung zur Dreyfusangelegenheit und zugleich zu mir konnte Much7 jene Notiz (660 meines Verzeichnisses)8 Auskunft geben, die ich auch Ihnen zuschickte. G. Paris verhielt sich zunächst zurückhaltend, während P. Meyer gleich anfangs Partei ergriff. Jude war G. Paris nicht, auch sein Vater nicht, ob die Familie jüdischen Ursprungs war – die Gesichter der beiden im N-Larousse sprechen nicht dafür und nicht dagegen. Ich habe mich für die Sache nicht weiter interessiert; nur die Erklärung des Namens hat mich einmal vorübergehend beschäftigt – ich hatte in einem südtyroler Dorf einen Grabstein mit dem Namen Paris gefunden und lernte später in Italien eine an einen Juden verheiratete Deutsche kennen deren Vaternamen Paris war.

Ich glaube nicht daß unser Urteil über G. Paris in irgend einem wesentlichen Punkte auseinandergeht. Er war ein großer Anreger. Und, wie ich Ihnen schon bei anderer |3| Gelegenheit auseinander gesetzt zu haben meine, für mich ist Anregung nicht an ein bestimmtes Gebiet gebunden; sie scheint mir sogar wirksamer, wenn sie von einem auf das andere Gebiet übergeht – Nachformung in anderem Stoffe usw.!

Von Morf sind meine letzten Nachrichten (Frau Frida, Urtel)9 nun auch schon ziemlich alt, und leider kann man in diesem Falle kaum sagen „Keine Nachricht gute Nachricht“.10 Ich will heute wieder einige Zeilen an Urtel schreiben;11 ich habe in den letzten Monaten überhaupt kaum einen Brief geschrieben. Meine baskische Arbeit die fast ein Jahr lang kaum vorgerückt ist, gedenke ich demnächst wieder aufzunehmen; sonst aber meine Studien auf allgemeine Fragen zu beschränken, da meine Augen – obwohl die Linsentrübung seit zwei Jahren nicht sehr vorgeschritten ist – unserer hyperminutiösen Lautwiedergabe nicht gewachsen sind. Um ę und ẹ und arab. ´ und ˀ zu unterscheiden, muß ich mich der Lupe bedienen, und so ist mir die Korrektur meiner letzten Abhandlung |4| recht sauer geworden.12 Übrigens kommt noch anderes hinzu, wobei ich nicht allein stehe: eine gewisse Übersättigung an Lautgeschichte. Sie ist erklärlich, weil wir bei allen diesen Studien eine wirkliche Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizonts nicht gewahr werden. Mit Gilliérons Arbeiten (über abeille13 oder anderes) wird es sich nicht so verhalten; ich bin überzeugt daß hier vor allem der Fortschritt der Methode zu Tage treten wird, auf dem ja alles beruht. Ich werde Ihnen dankbar sein wenn Sie mir die berührte Abhandlung von Gilliéron zukommen lassen wollen. Wenn ich von mir sage ich arbeite nicht ut aliquid fiat, sondern ut aliquid faciam, so gilt das schließlich von Allen; viele gestehen es ein, manche fühlen es allerdings nicht. Das Interesse, der Eifer, mit dem ich mich der Arbeit hingebe, die Begeisterung sogar, leiden darunter nicht im mindesten. Die Vorstellung Nützliches zu leisten kühlt viel mehr ab; aber sie muß von allen, die im Amte sind, aufrecht erhalten werden. Die Schweiz wird in Zukunft den festen Hort der Romanistik bilden, sonst würde ich ein finis Romaniae! ausrufen. Wir Deutschen werden uns, lange Jahre nach dem Kriege, nicht mehr der Hoffnung hingeben können, romanischen Stoff aus erster Hand |5| zu gewinnen – oder können Sie sich in Zukunft etwa die Sach- und Sprachstudien eines Deutschen auf romanischem Boden vorstellen? Das Natürlichste wäre doch, jeder pflüge auf seinem eigenen Felde, halte aber dabei weite Ausschau nach allen Seiten hin. Seit geraumer Zeit interessiere ich mich sehr für die schweizerdeutsche Schriftsprache (Federer, Zahn, Bernoulli, R. Schwarz u. a.)14 und finde da beständig Eigenartiges in Wort und Satz, das mich zu weiteren Ergänzungen anregt. Daß die welschen Schweizer ihren Landsmann Morf aus der Rousseau-gesellschaft hinausgedrängt haben, empfinde auch ich als etwas Schmähliches, wenn ich auch nicht glaube daß es den gegenwärtigen Zusammenbruch veranlaßt habe, so hat es doch zu seiner seelischen Niedergeschlagenheit beigetragen.15 Nebenbei gefragt, habe ich Sie nicht schon nach Ronjat16 gefragt, ob er Schweizer oder Franzose ist und was er eigentlich in Genf macht? Privatdozent? Seine Andresse wechselt. Ich habe von meiner Abh. neun Exemplare nach der Schweiz geschickt; ich glaube, das sind mehr als zuviel.17 An diejenigen Leute die sie am nächsten angeht, die französischen Berberologen und Arabisten (insbes. Maghrebisten), wie |6| Basset, Destaing, Doutté, Marçais18 usw. kann ich sie leider nicht anbringen; oder wissen Sie für ein, zwei Exemplare einen Weg dazu, nur damit man drüben Kenntnis von meinen Bestrebungen habe?

Dass L. Spitzer sich in Bonn habilitiert hat – leiblich bleibt er zunächst in Wien, als Feldgrauer – das wissen Sie wohl? Am 1. Aug. oder an einem der folgenden Tage hat er seine Probe- (oder Antritts-)vorlesung gehalten. Über Methoden der Syntax.19

Es fällt mir ein daß ich zwei Fragen die Sie mir vor langer Zeit stellten, nicht beantwortet habe. An eine Neuausgabe der Vita di Cola di Rienzo in röm. Md. habe ich 1867/8 vermutlich gedacht, mir den Druck von 1631 durchschießen lassen (in neuerer Zeit war die Schrift von Zefirino Rè20 herausgegeben worden) und angefangen etwa zwanzig Hdss. des 16. u. 17. Jahrhs. einzusehen und ihre Lesarten einzutragen. Glücklicherweise ist die Sache nicht bis zu Ende gediehen. –

Für das Ladinische oder wie ich es damals (nach Fuchs)21 bei mir nannte, das Mittelromanische interessierte ich mich fieberhaft schon in den 60er Jahren. Als ich 1867 nach Genf reiste, war ein Aufenthalt in Graubünden beschloßene Sache. Es kam nicht dazu. Über die Ortsnamen habe ich in jener Zeit ordentlich gearbeitet, (besonders nach dem Cod. dipl. von Moor [Mohr?]),22 wollte sie zum Gegenstand meiner Habilitationsschrift machen. Es geschah, Gott sei Dank, nicht.

Meine Ernährung ist gut; aber mein Hauptlebensmittel, nämlich das welches meine Krankheit eindämmt, droht auszugehen: das Diuretin.23

Herzlichst Ihr getreuer
HSch.


1 Zu ital. spago, „Bindfaden“.

2 Schuchardt, Die romanischen Lehnwörter im Berberischen, Wien: Hölder, 1918 (SB d. Wien. Ak. 188, IV, 1-82).

3 Schuchardt, „Die romanischen Lehnwörter im Berberischen [...]“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 11(5. 6. (Mai-Juni)), 1918, 181-184.

4 Leopold Rütimeyer (1856-1932), Schweizer Mediziner und Ethnograph; Weitere Beiträge zur schweizerischen Ur-Ethnographie aus den Kantonen Wallis, Graubünden und Tessin , Basel: Gesellschaft für Volkskunde-Strassburg: K.I. Trübner, 1918 (mit mehreren Hinweisen auf Jud).

5 Kürschners Deutscher Literatur-Kalender; Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender erschien erst ab 1925.

6 Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich einige Schweizer allerdings in den „Kürschner“ (Gelehrtenkalender) aufnehmen lassen.

7 Rudolf Much (1862-1936), österr. germanistischer und skandinavistischer Mediävist.

8 Schuchardt, „Zur Psychologie der Erinnerung [aus Briefen von G. Paris]“, Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 65, 1916, 137-139. Diesem Artikel zufolge hatte Schuchardt Paris gebeten, sich für Dreyfus einzusetzen, was dieser jedoch ablehnte.

9 Vgl. HSA, 07488-07491.

10 Franz. „Pas de nouvelles, bonnes nouvelles“.

11 Vgl. Urtels Brief 12287 (12.7.1918) an Schuchardt: „Ich beeile mich, Ihnen auf Ihre eben eingetroffene Karte zu antworten. Morfs Zustand ist leider sehr ernst. Ich habe ihn nun seit Ostern nicht mehr sehen und sprechen können – doch einmal sprach ich telefonisch von hier aus mit ihm und seine Stimme klang mir damals schon merkwürdig gebrochen und angstvoll. Von Frau M. und ihrer Tochter Frau Frieda Lehner habe ich indessen schriftlich gehört und habe vor ein paar Wochen Frau M. in Berlin einen Besuch gemacht. Sie war sehr zurückhaltend; ich entnahm ihren Mitteilungen, daß es sich eben um eine schwere psychische Erkrankung handelt, daß ihn fortwährend Ideen in der fürchterlichsten Weise verfolgten, Hungertod zu sterben, langes Siechtum ohne Rettung, allmähliches Absterben des Körpers u.s.w.“

12 Schuchardt, „ Die romanischen Lehnwörter im Berberischen“, SB d. Wien. Ak. 188, IV, 1918, 1-82.

13 Jules Gilliéron, Généalogie des mots qui ont désigné l'abeille d'après l'Atlas linguistique de la France, Paris: Champion, 1918.

14 Heinrich Federer (1866-1928); Ernst Zahn (1867-1952); Carl Albrecht Bernoulli (1868-1937), erfolgreiche Schweizer Schriftsteller; R. Schwarz konnte nicht identifiziert werden.

15 Morf (Berlin-Halensee, 4.11.1917) an Schuchardt (HSA , Brief 07536): „Dass mich die Genfer Soc. J.-J. Rousseau im Juni 1917 aus dem Vorstand ausgeschlossen hat, werden Sie vielleicht in den Tagesblättern gelesen haben; einige Franzosen drohten mit Austritt aus der Société, wenn der Berliner im Comité verbleibe, & da haben die Schweizer den Schweizer geopfert, im dritten Kriegsjahr“.

16 Jules Ronjat (1864-1925), franz. Romanist und Provenzalist; vgl. HSA 09750-09754.

17 Vermutlich Schuchardt, Berberische Hiatustilgung, Wien: Hölder, 1016 (Sitzungsberichte d. Wien. Ak. 182, 1-60).

18 René Basset (1855-1924), Edmond Destaing (1872-1940), Edmond Doutté (1867-1926), William Marçais (1872-1956); Schuchardt stand mit allen (mit Ausnahme von Destaing) in brieflichem Kontakt.

19 Vgl. seinen Brief an Schuchardt vom 5.8.1918 (147-10908, ed. Hurch, 94): „In Bonn habe ich über syntaktische Methoden gesprochen und auch etwas Eigenes zusammengeschustert. Bonn ist viel förmlicher als Wien, aber auch kollegialer, liebenswürdiger – vedremo!“

20 Zefirino Rè, La vita di Cola Rienzo; scritta da incerto autore nel secolo decimo quarto, Forlì 1828; Ders., La Vita di Cola di Rienzo, tribuno del Popolo Romano scritta da incerto autore nel secolo XIV, ridotta a migliore lezione, ed illustrata con note ed osservazioni storico-critiche da Zefirino Re cesenate , Florenz: Le Monnier, 1854.

21 August Fuchs, Die romanischen Sprachen in ihrem Verhältnisse zum Lateinischen; nebst einer Karte des romanischen Sprachgebiets in Europa , Halle: Schmidt, 1849.

22 Theodor von Mohr, Codex diplomaticus , Chur: Hitz, 1852-83 (mehrere Bände).

23 Diuretin wurde von 1895 an etwa siebzig Jahre lang vor allem als Diuretikum eingesetzt, aber auch bei Herzinsuffizienz und bei Asthma.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ11)