Hugo Schuchardt an Jakob Jud (50-HSJJ10)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

29. 04. 1918

language Deutsch

Schlagwörter: Société d'histoire de la Suisse romande Revue critique d'histoire et de littérature Zeitschrift für romanische Philologie Schuchardt, Hugo (1920) Schuchardt, Hugo (1921) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1922) Schuchardt, Hugo (1918) Schuchardt, Hugo (1866) Schuchardt, Hugo (1900) Bähler, Ursula (2004)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (50-HSJJ10). Graz, 29. 04. 1918. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8530, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8530.


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Graz 29 April ’18.-1. Mai

Lieber Freund

In Ihren Äußerungen über meine „ Sprachverwandtschaft“ verwunderte mich etwas Ihr Hinweis auf Bally den ich vernachlässigt hätte.1 Aber erstens hatte ich ja schon in meiner Saussure-Besprechung seiner rühmend gedacht, sodann wollte ich mich über innere Sprachform an dem betreffenden Orte überhaupt nicht weiter aussprechen, behielt das für später vor, wo ich aber vor Allem einen andern Landsmann von Ihnen, A. Marty, berücksichtigen mußte.2 – Wegen der mundartlichen „Abstufung“ wünschten Sie weitere Aufklärung von mir. Andere taten das auch, ich bin darauf nicht eingegangen weil ich mich im Drucke mit diesen Dingen fernerhin beschäftigen wollte, wiederum in einem |2| möglichst gedrängten Aufsatz (Prädikat und Subjekt o. ä.), den ich auch schon ein gutes Stück gefördert habe.3 Da kam mir die Urtel-sache dazwischen,4 die Besprechung war ja rasch fertig (ihr folgt jetzt, ebenfalls im Ltbl., eine andere von Meyer-Lübkes Rom. Namenst. II5 – vielleicht ist sie schon in Ihren Händen; aber ich wurde dadurch angeregt meine alten Aufzeichnungen über das Baskische von Sare wieder hervorzuholen. Diese Arbeit ist schon so weit gediehen, daß ich sie in den nächsten Wochen zu vollenden hoffe (wird insonderheit auch über die dortige Betonung handeln).6 Es hat eine monatelange Unterbrechung stattgefunden; ich konnte, wie mir das oft geschehen ist, an einem bestimmten, aber ganz unwesentlichen Punkte nicht weiter, ein kleines Steinchen hielt mich auf. Dazu kam daß Sehstörungen die mich belästigen, für mich zu der Entdeckung führten (der Arzt hatte sie schon 1916 gemacht) daß ich am Star litte. Da |3| dachte ich: Gefahr im Verzug, und nahm diejenige Arbeit vor, mit deren Drucklegung und Korrektur nach meinem Tode Niemand zurechtgekommen wäre: Die romanischen [ich meine wesentlich die altrom., d. h. die lat.] Lehnwörter im Berberischen. Ich bin auch, indem ich rücksichtslos strich und verzichtete, glücklich damit fertig geworden, und habe die Abhandlung an die Wiener Akad. geschickt. Es wird Sie manches darin interessieren, auch ihre bucca und panna (allerdings dies in männl. Form) kommt darin vor. Inzwischen können Sie vielleicht herausbekommen welche Holzhandelsbeziehungen zwischen dem südöstlichen Frankreich (oder etwa auch der Schweiz) mit Algerien bestanden haben; denn schon seit langer Zeit ist bei den Kabylen usw. amelzi für mélèze eingebürgert (man sollte +amlezi erwarten). Inzwischen sitze ich nun wieder über dem Baskischen, |4| nachdem ich gestern eine längere Anzeige von L. Spitzers Anti-Chamberlain (über Sprachbewertung) an Neumann abgeschickt habe.7

Sie wünschten noch über meine Beziehungen zu G. Paris zu vernehmen. Ich schreibe auf einem beifolgenden Blatt einige Notizen zusammen, ohne jede Ausfeilung. Ich bin offen gestanden, jetzt wenig aufgelegt – und auch wenig geeignet zum Briefeschreiben.

Grüßen Sie Gauchat vielmals von mir!

Ihr herzlich ergebener

HSchuchardt

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Ich hatte mir bis vor Kurzem eingebildet, aber steif und fest, ich hätte die Bekanntschaft von Gaston Paris in Nyon am 3. Sept. 1867 gemacht, bei einem festlichen Ausflug der S. d’H. de la Suisse rom.8 Erst als ich auf Ihre Anregung hin, meine alten Briefe wieder einsah, entdeckte ich daß eine Verwechslung mit Ch. Morel9 vorlag und Jahrzehnte Bestand gehabt hatte. Es war also nichts damit, daß bei dem ländlichen Mahle GP. und ich zufällig, ohne voneinander zu wissen zusammengekommen wären und gegenseitig uns zu unserer Verwunderung als Verf. der Hist. poet. de Charlemagne10 und des Vok des Vulgärl.11 entdeckt hätten. Charles Morel lud mich in der Folgezeit (9. Sept.) zu seinen Eltern nach Vevey zu Mitt[a]g ein, wo ich mit G. Paris der in Clarens weilte, zusammentraf. |6| Ich schrieb nach Hause: „M. Morel et M. Paris m’attendent à la débarcadère [sic] de V. [ich kam mit dem Schiff von Genf]. Ce dernier est un beau garçon au commencement des trente comme je pense [Irrtum !]12 puisqu’il a étudié à Bonn il y a douze ou dix ans; il ressemble au mari de la K. B., mais il est plus grand et n’a pas l’air si juif. Il me dit beaucoup de choses très-flatteuses sur mon ouvrage qu’il connaît très bien, tout en me signalant des points différents sur lesquels il se trouve en désaccord avec moi“. Am 11. Sept. besuchte mich G. P. in Genf von Clarens aus; wir brachten einen sehr angenehmen Tag zusammen zu. Ich schrieb nach Hause: G. Paris hat auf mich einen so angenehmen Eindruck gemacht, wie seit langer Zeit niemand, obwohl wir fast in allen Dingen, mit Ausnahme der Wissenschaft weit auseinander gehen. Er ist Franzose und Pariser; aber er liebt die Deutschen fast ebenso wie seine Landsleute, und die Wissenschaft geht ihm über alles. Er ist ganz vorurteilsfrei und folgestreng, für mich zu sehr. Usw. Ich war damals allerdings gar nicht franzosenfreundlich – weil die Franzosen |7| und die Westschweizer sehr deutschfeindlich waren. Und warum waren sie das? weil die Deutschen ihre eigenen Interessen in Ordnung brachten wie die Italiener die ihrigen.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit dankbaren Herzens Prof. J.-M. Hornung13 in Genf gedenken. Er war mein Gönner; er hatte wie Andere mir spöttisch zu verstehen gaben „einen Narren an mir gefressen“. Ein liebenswürdiger, gescheiter, sehr gesprächiger Mann, Gegner von Mommsen. Er brachte mich überall an wo er nur konnte; gedachte eines Urteils von mir über Gedichte von Sainte Beuve in einem Briefe an diesen, führte mich zu seinem Vater dem Maler Hornung14 damit ich das altgenferische δ = s hören könnte, machte ungeheures Wesen von der mention honorable die mir das Institut de France wegen meines V. d. V. [Vokalismus des Vulgärlateins] zuerkannte, nahm mich auf Ausflügen mit (einem nach Thouva, wobei ich E. Ritter,15 Amiel16 u. a. kennen lernte) und so auch schließlich |8| nach Nyon, wo er mir zulieb mich Ch. Morel17 vorstellte (nicht mit besonderer Freude, da er kurz zuvor in der Revue critique etwas zersaust worden war).

Mit G. Paris habe ich, trotz Krieg, Politik, Dreyfus, trouver18 u. ä. bis zu seinem Tode in den besten Beziehungen gelebt. Ebenso mit Ascoli fast in dem gleichen Zeitraum; es ist mir am Ende meiner Tage eine tröstliche Erinnerung daß ich mit zwei großen Männern so ganz verschiedener Art in dauerndem herzlichen Einvernehmen geblieben bin. Mit Ascoli hat es nur ein einziges Mal (um 1900 herum) eine starke, aber sofort bereinigte Verstimmung gegeben; er hatte mir wegen toccare, caporale, cucchiaio o. ä. einen, wie man in Norddeutschland sagen würde, „dollen“ Brief geschrieben, mit der Bitte ihm denselben zurückzuschicken. Ich tat es, mit einigen Blaustrichen als einzigem Kommentar – und die Sache war behoben. . / .19


1 Dies muss in einem nicht erhaltenen Brief geäußert worden sein.

2 Eine kurze Erwähnung Martys erfolgt in Sprachursprung III, 1920, 452, 459 bzw. Possessivisch und passivisch, 1921, 661f.

3 Schuchardt, „Sprachursprung III (Prädikat, Subjekt, Objekt.)“, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften 1920, 448-462.

4 Schuchardt, „[Rez. von:] Hermann Urtel, Zum Iberischen in Südfrankreich“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 39-44.

5 Schuchardt, „[Rez. von:] W. Meyer-Lübke, Romanische Namenstudien. II. Heft. Weitere Beiträge zur Kenntnis der altportugiesischen Namen“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 194-199.

6 Schuchardt, „Zur Kenntnis des Baskischen von Sara (Labourd)“, Abhandl. d. Berl. Akad. d. W. 1922, 1-39.

7 Schuchardt, „[Rez. von:] Leo Spitzer, Wien, Anti-Chamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains “Kriegsaufsätze” und die Sprachbewertung im allgemeinen“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 39, 1918, 281-287.

8 In der zweiten Jahreshälfte 1867 hielt sich Schuchardt in der Schweiz, meist in Genf, auf. – Die Société d'Histoire de la Suisse romande ist die älteste derartige Gesellschaft der Romanischen Schweiz und wurde am 6. September 1837 in Lausanne gegründet.

9 Charles Morel (1837-1902), Schweizer Historiker und Journalist, gründete 1865 mit Gaston Paris, Paul Meyer und Hermann Zotenberg die Revue critique d’histoire et de littérature. Vgl. HSA 07484-07491.

10 Paris, Histoire poétique de Charlemagne , Paris: Franck, 1865. – Der Briefwechsel Paris-Schuchardt setzt 1869 ein.

11 Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipzig: B.G. Teubner, 1866-68, 3 Bde.

12 Paris wurde am 9.8.1939 in venay-Val-d'Or geboren, war also zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt.

13 Joseph Marc Hornung (1822-1884), Juraprofessor, Präsident des Genfer Kassationsgerichts.

14 Joseph Hornung (1792-1870), Porträt- und Historienmaler, „considéré de son temps comme le peintre officiel de la Réforme“.

15 Eugène Ritter (1836-1928), Genfer Literaturhistoriker; vgl. HSA 09674-09681.

16 Henri Frédéric Amiel (1821-1881), Schweizer Schriftsteller und Philosoph.

17 Charles Morel (1837-1902), Schweizer Historiker und Journalist; vgl. HSA 07484-07486.

18 Vgl. Schuchardt, „ Tropare [Erwiderung]“, ZrP 24, 1900, 411-412. Zu Einzelheiten vgl. Ursula Bähler, Gaston Paris et la philologie romane, Genf: Droz, 2004 (Publications romanes et françaises, 234), 333ff.

19 HSA 148-00312a (Brief vom 20.7.1898). Dieser Brief endet: „Come dunque facciamo? Vi pare che io ne scriva alla Zeitschrift? O non è meglio che voi me ne anticipiate le vostre repliche e si stampi tutto insieme, – nella debita forma che s'intende, – sull'Archivio? Vi prego di dirmene una parola, quanto più presto potete. E, munito (come spero) delle vostre controsservazioni, e povere e nude come stanno, vogliate aver la bontà di restituirmi a suo tempo queste mie paginuzze. Io rimango in Milano a tutto il 27 del mese, poi sarò per quattro settimane al Monte Generoso (La Vetta), Canton Ticino“.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ10)