Jakob Jud an Hugo Schuchardt (49-05188)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

25. 12. 1917

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (49-05188). Unbekannt, 25. 12. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8529, abgerufen am 01. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8529.


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25.XII.17.

Verehrter Meister!

Mit einem wirklich schweren Schuldgefühl ergreife ich heute die Feder, um Sie für mein ausserordentlich lang dauerndes Stillschweigen um gütige Nachsicht zu bitten. Und auf Ihre gütige Nachricht darf ich nur deswegen Anspruch machen, weil Sie unschwer verstehen, dass bei meiner schweren Belastung von Schul- und Universitätspflichten ich nicht immer in der Stimmung bin, abends spät Briefe zu schreiben. Man schiebt dann seine Briefschuld von einem Tag auf den andern und schliesslich treten die Ferien ein, die endlich dem Abladen solcher Gewissenskonflikte die günstigste Gelegenheit gewähren. Also nochmals bitte ich für freundliche Nachsicht!

Das letzte Quartal war besonders streng wegen der weitläufigen Vorbereitung für eine Vorlesung: Probleme der italienischen Orts- und Eigennamenforschung, wo der Forscher |2| oft in einem wahren Urwald sich zu befinden wähnt: so sehr fehlen hier gangbare Strassen und sichere Wegweiser. Sind auch einige Lichtungen geschlagen: in der Garfagnana und in Venetien durch Pieri,1 Olivieri,2 Prati;3 in der Lombardei durch Salvioni,4 so sind doch die Hauptprobleme noch so wenig scharf herausgearbeitet, dass der Forscher fast verzweifeln muss. Und wenn man sich gar in die Geschichte der vorrömischen Namen vertieft, so weiss man wirklich oft nicht, wessen Anschauungen man teilen soll. Für die einen ist das Suffix –ona der italienischen Städtenamen illyrisches Kennzeichen, für die andern illyrisch-keltisch; –ua von Mantua, Padua ist den einen etruskisch, den andern illyrisch u. s. w. Eine ganze Woche hindurch studierte ich die Verteilung |3| der –ago Namen in Oberitalien, die recht merkwürdig ist: sie fehlen fast völlig in den Poniederungen und in den Hochalpentälern, gruppieren sich um bestimmte römische Colonien herum u. s. w. Und doch ist es gut, sich vorzunehmen, ein solches Neuland umzustechen: so reichliche Probleme steigen einem auf, und andere Gesichtspunkte werden wieder lebendig!

Doch ich rede ja immer von Forschung, die Ihnen in diesem Augenblick ferner liegt; ich möchte Sie nun mit diesen Problemen nicht allzu lange aufhalten und schnellstens zu Ihrer wirklich eindrucksvollen Abhandlung über die Verwandtschaft der Sprachen ablenken,5 die mir bei der Lektüre grossen Gewinn brachte, aber auch Widerspruch ausgelöst hat. Der Widerspruch bewegt sich in der Richtung, dass ich gerne gesehen hätte, welches die Wahl der Merkmale sein muss, um von einer stetigen geographischen Abstufung reden zu können. Angenommen die Gascogne liegt am Anfang der Reihe a, b, c, d, e |4| f, g, h: h sei das Portugiesische: keine dazwischen liegende Mundart weist Fall des –n– auf, genügt z.B. die Übereinstimmung zwischen a – e (Castilisch) in Bezug auf f- > h-, um jene Übereinstimmung auszuschalten? Ich gebe zu, dass bei „ungestörten“ Verhältnissen sich die geographische Abstufung mit der sprachlichen in correlatem Verhältnis befindet: aber hat die sprachliche Betrachtung je solche primitive Lagerung zu untersuchen Gelegenheit? Und ist es nicht gerade eines der reizvollsten Probleme zu zeigen – was Sie am Schlusse so eindringlich betonen – dass Sprachgeschichte Volksgeschichte oder besser Geschichte der Sprechenden einer Volksgenossenschaft oder der Menschheit ist? Ist die Gruppierung der italischen Mundarten nicht auch ein Capitel der Geschichte der Italienisch Sprechenden?

Voll und ganz kann ich mich allerdings mit Ihren Anschauungen befreunden in Bezug auf die Kriterien, die von inneren und äusseren Sprachformen ausgehen. Hier [Briefende fehlt!]6


1 Silvio Pieri (1856-1936), ital. Sprachwissenschaftler und Glottologe; vgl. HSA 08826-08827; hier ist wohl gemeint Toponomastica delle Valli del Serchio e della Lima, Torino, 1898 (Archivio glottologico italiano. Supplementi periodici, disp. 5, 1898, S. 1-242).

2 Dante Olivieri (1877-1964), Saggio di una illustrazione generale della toponomastica veneta , Città di Castello, S. Lapi, 1914 (mehrere weitere Arbeiten in späteren Jahren).

3 Angelico Prati, L’italiano e il parlare della Valsugana , Roma: Miglione e Strini, 1917.

4 Carlo Salvioni, verschiedene Aufsätze: „ Noterelle di toponomastica Lombarda 1 “, Bolletino Storico della Svizzera Italiana 1898 …. bis 4, ebd. 23, 1901,7/9.

5 Schuchardt, „ Sprachverwandtschaft“, Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 37, 1917, 518-529.

6 Heinimann, 1992, Nr. 14, 21-22.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05188)