Hugo Schuchardt an Jakob Jud (47-HSJJ09)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Unbekannt

19. 09. 1917

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (47-HSJJ09). Unbekannt, 19. 09. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8527, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8527.


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19.9.17

Lieber Freund.

Meine Briefe vom 1./3. und 6./9. d. M. haben Sie hoffentlich empfangen,1 falls nicht etwa die Zensur mit ihnen wegen ihrer Länge kurzen Prozeß gemacht haben sollte. Ich werde diese Kindereien fortsetzen – hat man A und B gesagt, so muß man auch C sagen; ich hatte sogar schon damit begonnen, werde aber nur von all den verzwickten Seitenpfaden auf die Hauptstraße zurückgetrieben. Nämlich durch eine Bemerkung von L. Spitzer, die sich zu Anfang seiner Anzeige von Toblers Altfranz. Wörterbuch in den Göttinger gelehrten Anzeigen findet.2 Er meint, der Ausdruck „Schule“ sei mir verhaßt. Ich habe ihm, wir stehen in lebhaftem Karten- (auch Brief-)-Wechsel, gesagt diese Bezeichnung sei stark übertrieben, und könne aus meiner Äußerung über Diez |2| nicht entnommen werden. Im Kern ist die Sache allerdings richtig – ich verhalte mich gegen „Schule“ im aktiven wie im passiven Sinn ablehnend.

Aber mir schwebt dabei „Schule“ vor wie man es zu Ritschls Zeit verstand. Als Korpsstudent hatte ich ja schon einen Begriff vom „esprit de corps“ (damals sagte man es noch französisch), aber eben deshalb mochte es mir in der Sphäre der Wissenschaft nicht gefallen, und schon in der Kindheit war mir aller Druck und Zwang in geistigen Angelegenheiten zuwider gewesen. Neid spielte dabei nicht mit, ich selbst war ja ordentlich abgestempelter Schüler Ritschls. Für die alten Komiker hatte ich schon vorher viel Interesse, wenigstens für Aristophanes. Ritschl hat mich jedenfalls in der Richtung auf Plautus lebhaft vorwärts getrieben, ebenso wie auf Terenz, lat. Inschriften usw. Als es für mich Zeit wurde den Gegenstand der Doktorarbeit zu wählen, dachte ich an mancherlei, an Terenzscholien (mit ihnen hatte ich mich während einer vierzehntägigen Karzerhaft3 eifrig beschäftigt; – eine Terenzkollation war mir von Ritschl anvertraut worden, aber wegen Nichtbenutzung dann wieder abverlangt), an plautinische Metrik, an den Mistkäfer zu Beginn eines Lustspiels von Aristophanes. Aber |3| es kam anders; Inschriften hatten es mir von früh auf angetan und Inschriften entschieden nun meine wissenschaftliche Richtung. Im Frühjahr 1862 unternahm ich mit einem Fuchs meines Korps, einem Herrn von Prittwitz,4 der für Natur und Kunst nicht unempfänglich war, von Bonn aus einen Ausflug nach Trier.

An dem Dorfe Briedel,5 das meinem Großvater zufolge der Stammsitz der Familie Bridel war, fuhr ich auf dem Moseldampfer achtlos vorüber; Triers Altertümer erfüllten mich ganz, und auf lange Zeit hinaus die ärmsten und verächtlichsten, die christlichen Grabinschriften. Ich erwarb, glaub ich, schon früh das kümmerliche Buch von Fleetwood, (1691), dessen zweiten Teil die Christiana monumenta bilden.6 Nachdem ich Herbst 1862 die Universität verlassen hatte und nach meiner Vaterstadt Gotha zurückgekehrt war, widmete ich mich da, in wissenschaftlicher Vereinsamung, durch die treffliche Schloßbibliothek und von auswärts durch die Göttinger und die Weimarer Bibliothek (wo mein Freund Reinhold Köhler7 mir jederzeit half) unterstützt – jede Woche kam wenigstens ein Bücherpaket an – der Arbeit über das Vulgärlatein. Sie wuchs |4| zu einem dicken Folianten in zweifelhaftem Latein aus, mit dem ich im Frühjahr 1864 zu Bonn promovierte und den ich dann ins Deutsche, bessernd und erweiternd, umgoß – wiederum in Gotha – zu Anfang 1866 erschien der erste Band. Es ist mir nicht wahrscheinlich daß ich beim Verlassen der Universität Ritschl von meinem Plan in Unkenntnis gelassen hätte. Es dünkt mich sogar, er habe abgewinkt; keinenfalls hat er mich dazu angeregt, und sollte er mir irgendwelche Fingerzeige gegeben haben, so habe ich sie nicht befolgt. Gewiß hat Ritschl in meinem Werke kein Kind seines Geistes gesehen. „Palmarum“ 1864 schrieb er mir davon,8 am Tage nach dem Empfang, als von einem „Denkmal stupenden Fleißes“ und als solches wurde es auch in dem Diplom bezeichnet. Die Wenigen die das Buch überhaupt erwähnten, bedienten sich dieses Kennwortes. Ich entsinne mich keines wirklich sachlichen Eingehens; doch werde ich noch nachsehen. 19.3.18669 schrieb mir Ritschl sofort nach Empfang des ersten Bandes einen sehr bemerkenswerten Brief. Ich teile Ihnen das Wesentliche daraus mit: |5| „Bis dat qui cito dat ... Wenn Sie voraussetzen, daß ich über abweichende Meinungen, die Sie gegen mich geltend machten, nicht empfindlich sein werde, so kennen und beurtheilen Sie mich sehr richtig. Übrigens ist mir beim ersten flüchtigen Durchblättern noch nicht einmal etwas der Art aufgestoßen, sowie ich das auch, ehrlich gestanden nach Ihrer lateinischen Abhandlung kaum erwartete. Nämlich insofern nicht, als ich bei deren genauer Durchlesung vielmehr im Gegentheil fand, daß Sie ziemlich zahlreiche Erörterungen über sprachgeschichtliche Punkte, wie ich sie bei verschiedensten Gelegenheiten im Laufe mancher Jahre gegeben, entweder nicht kannten oder absichtlich ignorierten, obgleich mir doch schien (und scheint), daß nicht wenige Erscheinungen, für die meist auf andere verwiesen zu werden pflegt, zuerst von mir in dasjenige Licht gestellt worden seien, dem eine mehr oder weniger allgemeine Zustimmung – oder doch Anerkennung der eigentlich Sachverständigen und Stimmberechtigten zu Theil geworden ist. Und darum, will ich gestehen, hatte auch Ihre freundliche Dedicationsabsicht etwas Überraschendes für mich. – Aber vielleicht unterscheidet sich ja auch darin, wie schon auf den ersten Anblick in so vielem Andern, die jetzige Umarbeitung wesentlich von dem frühern lateinischen Entwurf was mich aufrichtig freuen sollte.“

|6| Dabei hatte es natürlich nicht sein Bewenden; aber meine Erinnerungen sind unsicher, besonders in chronologischer Beziehung. Bevor ich den eben mitgeteilten Brief wieder las, schwebte mir vor, Ritschl habe mir vorgeworfen, ich stünde zu wenig „auf den Schultern meiner Vorgänger“, ich hätte ihn dann ersucht mir bestimmte Angaben über meine Vernachlässigungen zu machen, er hätte mir erwidert: „schaun Sie nur selbst nach“, ich hätte daraufhin das halbe Hundert Programme o. a. von Ritschl durchgesehen [*die gesammelten Opuscula erschienen erst später]10 und nichts Wesentliches gefunden, was nachzutragen gewesen wäre. Es haben sich hier irgendwie Mitteilungen meines Freundes K. Zangemeister11 eingemischt. So viel steht fest daß ich Ritschl ein Ärgernis war, daß ich durchaus nicht die Richtung eingeschlagen hatte, die er erwarten durfte; mir kam damals der Verdacht, er habe irgend einen andern seiner Schüler dazu ausersehen diese Aufgabe oder doch eine ähnliche zu bearbeiten. Denn ich dachte mir das Vulgärlatein von vorn herein ziemlich anders als Ritschl, und der Punkte über die wir uns gemeinsam geäußert haben, sind doch nicht garzu viele. Sollten Ritschl solche Stellen wie II, 286 ganz entgangen sein, wo ich ihm widersprochen habe? Wenn ich 1866 irgend etwas entdeckt hätte, was die Berufung auf Ritschl forderte, so würde ich es sicherlich im Band III vorgebracht haben (vielleicht findet sich da irgend welcher Nachtrag dieser Art – ich kann das jetzt nicht untersuchen).12 Der Verdacht des „absichtlichen |7| Ignorierens“ war jedenfalls sehr kränkend für Jemanden, der auch damals schon in der Angabe seiner Quellen so gewissenhaft wie möglich war (daher empfand ich auch im späten Alter Meringers Plagiatanschuldigung lebhafter als vielleicht mancher andere es getan hätte). –13

Und nun will ich Ihnen sagen - da Sie das besonders zu wünschen scheinen – was ich über meinen V. d. V. [=Vokalismus des Vulgärlateins] nach einem halben Jahrhundert, hoffentlich ohne Verblendung, denke. Ich habe im Ganzen wenig Freude daran gehabt, ja es sogar bedauert die besten Jahre meines Lebens an eine so trockene, unendlich mühsame und mechanische Arbeit verloren zu haben, die Herstellung eines Scherbenbergs. Denn, um Ihre Worte zu gebrauchen, „daß ich dem Latinisten hinsichtlich der Vitalität einer vulgärlat. Form durch die Angabe der fortlebenden romanischen Formen ein sicheres Kriterium an die Hand gab“, das war das Neue nicht, und wenn es das war, so war es etwas allzu Kümmerliches. Sie sagen unmittelbar darauf, Sie seien „zu wenig vertraut mit dem Stand der vulgärlat. Forschung Mitte der 60er Jahre“. Darüber habe ich mich gewundert. Gab es denn damals überhaupt eine vulgärlateinische Forschung? Was dahin gezählt werden könnte, habe ich I, 40-44 zusammengestellt; vor meinen Augen hielt, außer |8| den paar Aufsätzen von Pott,14 nur Corssens Buch (1. Aufl.)15 Stand, in welchem das Vulgärlatein häufig, wenn auch nur in einer Dienerrolle auftritt. Diesem Buch verdanke ich nicht wenig Anregung. Wenn ich nun irgend ein Verdienst in dieser Sache beanspruchen dürfte, so wäre es das: den unförmlichen Block, das Vulgärlatein, ins Rollen gebracht oder eine Substanz hergestellt zu haben, über deren Beschaffenheit und Gestalt man sich methodisch unterhalten konnte. Deshalb lege ich nicht sowohl auf die Formensammlung Gewicht, als auf die Einleitung (mit den entsprechenden Nachträgen von III etwa dritthalb hundert Seiten). Das Vulgärlatein sollte als Treffpunkt für Romanisten, Latinisten, Arianer erscheinen; deshalb hatte ich mir als Anzuwidmende Diez, Ritschl, Schleicher gedacht. Der letzte lehnte dankend und mit Begründung ab; Ritschl wunderte sich daß ich Diez als meinen Lehrer bezeichnete, obwohl ich nie bei ihm gehört hätte – als ob es nur gehörte Lehrer gäbe! Andres ein andres Mal! Schreiben Sie mir inzwischen, was Sie noch zu wissen wünschen.

Herzlichst Ihr
H. Sch.16


1 Überliefert ist nur der vom 6.9.1917 (Brief 7).

2 Leo Spitzer, GgA 179, 1917, 429-445; vgl. ebenfalls Spitzer an Schuchardt (17.9.1917, HSA 97-10858; ed. Hurch, 2006, 65).

3 Dazu am Rand die Erklärung: „(Kumulierung vermeintlicher Untaten). Die schönste Zeit meines Bonner Studiums; kühle Räume bei Hochsommerglut – ich durfte täglich einmal im Rheine baden – vollständige Ruhe!“

4 Vermutlich Arwed von Prittwitz und Gaffron (1843-1891), später preuß. Offizier.

5 Briedel ist eine Ortsgemeinde im heutigen Landkreis Cochem-Zell in Rheinland-Pfalz.

6 William Fleetwood, Inscriptionum antiquarum sylloge in duas partes distributa; quarum prior inscriptiones ethnicas singulares & rariores penè omnes continet, quæ vel Gruteri Corpore, Reynesii Syntagmate, Sponii Miscellaneis, aliisque ejusdem argumenti libris reperiuntur. Altera Christiana monumenta antiqua quae hactenus innotuerunt omnia complectitur: In usum juventutis rerum antiquarum studiosae edita, et notis quibusdam illustrata , Londini: Guil. Graves, 1691.

7 Reinhold Köhler (1830-1892), vgl. HSA 05692-05729.

8 Brief vom 3.4.1864, HSA 09669: „Da Sie, lieber Herr Schuchardt, eine augenblickliche Benachrichtigung über den Eingang Ihrer Sendung wünschen, so müssen Sie sich auch die geschäftsmäßigste Kürze gefallen lassen. Ich habe dieses Denkmal stupenden Fleißes, nach nur flüchtiger vorläufiger Ansicht, gestern, am Tage des Empfangs, sogleich an den z. Dekan der Facultät abgegeben, der nun das Weitere ordnungsmäßig zu veranlassen hat“.

9 HSA 09670, vgl. ed. Hurch.

10 Friedrich Ritschl, Opuscula philologica. 1. Ad litteras Graecas spectantia , Leipzig: B. G. Teubner, 1866; 2. Ad Plautum et grammaticam Latinam spectantia , ebd., 1868.

11 Karl Zangemeister (1837-1902), Klass. Philologe; vgl. HSA 12943-12965.

12 Kein Nachweis; Ritschl wird mehrfach zitiert, stets zur Bestätigung eigener Aussagen Schuchardts.

13 Vgl. Fliegendes Blatt [gegen R. Meringer], Graz: Eigenverlag, 1908.

14 August Friedrich Pott (1802-1887), Allg. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 08984.

15 Wilhelm Paul Corssen, Kritische Nachträge zur lateinischen Formenlehre , Leipzig: Teuber, 1863.

16 Heinimann, 1972, 16-19.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ09)