Graz 25.7. ‘17
Lieber Freund!
So viel ich mich entsinne, habe ich Ihnen für Ihren Brief vom 14.6. mit kurzen Worten gedanktBrief [05184](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8521); die kurze Antwort ist nicht erhalten. und Sie auf einen längeren Brief vertröstet. Dieser erfolgt aber auch jetzt noch nicht. Ich habe mich in der letzten Zeit sehr wenig wohl befunden und war durch eine Sache ganz in Anspruch genommen. Von den mancherlei begonnenen und auch großenteils fast ausgeführten Arbeiten wollte ich wenigstens eine für die Berl. Akad. d. W. noch in diesem Sommer fertig machen (am 1. Aug. beginnen die fast dreimonatigen Ferien), koste es was es wolle. Ich nahm das schon mehrfach bearbeitete „Relikt“ her, erkannte aber bald daß es gar zu sehr anschwellen würde und schnitt die Einleitung: „Sprachverwandtschaft“ für die Drucklegung
Schuchardt, „
[
Sprachverwandtschaft](https://gams.uni-graz.at/o:hsa.bibliography#BIBL.713)
“,
Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 37, 1917, 518-529. ab. Ich hatte dabei zwar zunächst das Romanische im Auge, aber wollte gerade da mich auf das Einzelne nicht einlassen (Salvionis Neuestes habe ich schließlich angeführt – für Ihren Bericht darüber besten Dank!Jud,
Rez. von C. Salvioni, Per la fonetica e la morfologia delle parlate meridionali d’Italia
, Romania 44, 1915, 130-131. ) und habe somit von Horning und Gauchat ganz abgesehen. Vor Allem lag mir daran „die Methoden zu beleuchten die man bei der Vergleichung des Elamischen, Hethitischen usw. mit dem Arischen oder Kaukasischen befolgt“. Allein das führte mich erst recht weit, und so kürzte ich und strich ich – führte sogar den Schluß gewaltsam herbei – und es blieben denn 9 Quartseiten, das schönste Schulbeispiel eines „ridiculus mus“. Vielleicht werden die Streitfragen so eher aufgegriffen und erörtert; heutigen Tages vertragen wir Allzulanges nicht gut. Kurz und gut, die Sache ging eigentlich über meine Kräfte. In diesen Tagen las ich irgendwo, ein Vorzeichen der Arterienverkalkung sei eine gelinde Vertrottelung (das war wenigstens der Sinn); ich hatte mir bisher gedacht, das Gehirn käme zuletzt daran. Nun, für die Zusammenstellung meiner auf die Wissenschaft bezüglichen Jugenderinnerungen reicht es vielleicht doch noch. Einstweilen will ich einige Ihrer Fragen beantworten. Mit der Familie Bridel sind wir immer in einer gewissen Beziehung geblieben, wenngleich in sehr loser, so auch ich. Meine Mutter war als sie aus der Pension zurückkam, des Französischen weit mehr mächtig, als des Deutschen. Aber von dieser Seite bin ich wissenschaftlich nicht beeinflußt worden. Ascoli und Mussafia habe ich als Lehrer (magistros) nicht kennen gelernt.
Ich konnte gestern nicht weiter, bin aber auch heute durchaus nicht schreibselig oder richtiger gesagt, schreibfähig. Also beschränke ich mich auf einen kurzen Hinweis. Es liegt mir sehr am Herzen daß bezüglich der Mundartengrenzen kein Mißverständnis zwischen uns bestehe. „Forschungen auf dem Terrain“ usw. können auf meine Anschauung keinen Einfluß ausüben; sie ist ja ganz allgemeiner Art, bezieht sich auf alle Sprachen. Im einzelnen würden z. B. schon die baskischen Mundarten uns ganz Anderes lehren als die romanischen. Ich leugne keineswegs das Vorhandensein sehr deutlicher, ja scharfer Grenzen, aber das sind absolute Grenzen, deren Rolle als relativer, als Grundlagen für Klassifikation mir nicht einleuchtet. Usw. Je n’en puis mais [das lasse ich als Zeichen meiner Gedankenschwäche stehen]
Herzlichst
Ihr
Schuchardt