Hugo Schuchardt an Jakob Jud (40-HSJJ05)
von Hugo Schuchardt
an Jakob Jud
29. 05. 1917
Deutsch
Schlagwörter: Wellentheorie Heinimann, Siegfried (Hrsg.) (1992) Corssen, Wilhelm (1858–1859) Schuchardt, Hugo (1864) Schuchardt, Hugo (1866) Schuchardt, Hugo (1877) Schuchardt, Hugo (1900) Saussure, Ferdinand de (1916) Spitzer, Leo (1917)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (40-HSJJ05). Graz, 29. 05. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8520, abgerufen am 07. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8520.
G., 29. Mai ‘171
Lieber Freund,
Vergeblich habe ich darauf gewartet daß ich mich wohler und muntrer fühlen würde; nichtsdestoweniger will ich meinen Brief von neulich2 fortsetzen weil ich sonst nicht mehr zu trennen wüßte was ich Ihnen schon geschrieben habe und was ich erst zu schreiben beabsichtigte. Ich habe in meiner Vergangenheit gedanklich herumgewühlt und muß nun noch bestimmter als erst erklären daß weder Diez noch ein anderer „einen wirklich entscheidenden Einfluß auf meine Studienrichtung ausgeübt hat“. Das heißt: in Person - ich lernte ihn ja erst 1864 kennen; wohl aber haben mich seine Schriften beeinflußt, aber auch erst nachdem mich der Zauber des Trierer Vulgärlateins schon gefangen genommen hatte. Die alten Steine haben mich – zwischen 1862 und 1864 – in die Arme von Diez ge- |2| trieben (neben seinen Büchern war wohl das von Corssen „Über die Aussprache ...“3 dasjenige was mir, von den Inschriftenwerken abgesehen, am nächsten lag); deshalb bezeichnete ich ihn in der Widmung meines „Vokalismus“ als meinen Lehrer, worüber mir Ritschl4 seine ungehaltene Verwunderung aussprach – ich hätte ja nie bei Diez gehört.5
Aber mir war „Schule“ in dem Sinne wie man es zu nehmen pflegte, von jeher, besonders aber seit den Ritschelianern, zuwider und gerade deshalb hatte ich Diez als meinen Lehrer bezeichnet. Ritschl war aber, wie ich Ihnen schon sagte, mit meinem Geisteskind6 darum so wenig zufrieden weil er so wenig darin seinen Geistesenkel wiederfand; für ihn war Vulgärlatein etwas anderes als für mich - auf das Engste an das von ihm so gründlich und scharfsichtig behandelte archaische Latein anzuschließen. Meine |3| Ansicht über Schule finden Sie schon im Zentralblatt von 1877 Sp. 119 ausgesprochen: „Diez hat keine Schule gebildet ...“7 Der dritte Widmungsempfänger sollte A. Schleicher8 sein; er lehnte aber dankend ab, aus irgendeinem für ihn schmeichelhaften, für mich nicht unschmeichelhaften Grunde; um nicht mißverstanden zu werden, setze ich hinzu, es hing mit seiner Bescheidenheit zusammen. Hätte Schleicher auf mich bestimmend gewirkt, so wäre ich wohl Germanist geworden. Welche besonderen Anregungen er mir gegeben haben könnte, darüber habe ich schon vor einiger Zeit nachgedacht. Ettmayer9 nämlich fragte mich ob nicht etwa die Wellentheorie von Joh. Schmidt10 und meine entsprechende auf Schleicher zurückgingen. Wir haben uns aber wohl nie gesehen (meine Berufung nach Graz 1876 hat er veranlaßt) und schriftlich auch wenig, gewiß nicht über diese Sache verhandelt. |4| Nach Meyers K.-L. [=Konversations-Lexikon] kam er nach Bonn mit mir zu gleicher Zeit, dann von dort nach Jena. Nun entsinne ich mich noch, daß Schleicher einmal auf einem der Spaziergänge die er manchmal mit seinen Zuhörern machte, uns oder vielleicht mir auseinandersetzte wie sich die Sprachen auf der Erde ihrer geographischen Lage gemäß gegeneinander abstuften; ähnlich wie die Floren – er trug ja gern die Botanik in die Sprachwissenschaft. Daß das einigen Eindruck auf mich machte, geht daraus hervor daß mir noch die Ecke des Tisches in dem Dorfwirtshause gegenwärtig ist, an dem das Gespräch stattfand. Aber es handelte sich ja nicht um eine geographische Abänderung zwischen nahe verwandten Sprachen, sondern um eine Anordnung ganz verschiedener Sprachtypen für die das Bild von Wellenzentren (Vok. III, 34) gar nicht paßt und, hätte mir die Schleichersche Auffassung11 überhaupt irgendwie hier vorgeschwebt, so würde ich gewiß auf sie angespielt |5| haben, und die betreffende Stelle wäre dann nicht als Nachtrag auf I, 83, sondern auf I, 78 ff. bezogen worden. Kurz, ich denke, ich habe mir die Sache aus den eigenen Fingern gesogen; selbst ein flüchtiger Blick auf die französischen und italienischen Mundarten in ihrer Verteilung mußte zu dem Ergebnis führen. Also, um zusammenzufassen, ich fühle mich wesentlich als Autodidakt; ich habe es immer geliebt, einsame Wege zu wandeln und wenn ich an einem Landhäuschen vorbeikomme, an dem die Worte stehen: Parva, sed mea, so fühle ich mich sehr angeheimelt. Nun genug von dieser Selbstbetrachtung, hoffentlich ist es keine Selbstberäucherung.
Wie gerne würde ich gerade jetzt mich mündlich mit Ihnen unterhalten, nicht bloß deshalb etwa weil der schriftliche Ausdruck meinem dummen Kopf etwas sauer wird. Ich bin dabei meine verschiedenen Steckenpferdchen zusammenzuspannen d. h. meine wissenschaftlichen Anschauungen in größere Einheitlichkeit und Klarkeit zu bringen als ich das bisher vermocht habe.
30. Mai
Besonders läge mir daran mich mit Ihnen über die „Klassifikation“ zu verständigen; denn es kann sich nur um Mißverständnisse handeln. In diesem Augenblicke vermag ich nicht – es ist aber die mir nächst vorliegende Aufgabe – das was ich selbst und Andere darüber geschrieben haben, wieder zu lesen. Also noch nicht festzustellen wie weit der Sch. von 1917 noch der von 1870 ist.12 Habe ich wirklich die Unmöglichkeit einer Klassifikation der romanischen Mundarten behauptet? Mir schwebt vor: nur die Unmöglichkeit einer einzigen bestimmten; Sie nehmen ja auch zwei Arten der Klassifikation an. Bei mir würde es sich aber um die Verschiedenheit der Kriterien handeln; warum sollen denn die Laute durchaus maßgebend sein Das Studium der baskischen Mundarten hat meine Vorstellung von mundartlicher Verschiedenheit sehr modifiziert. Ihren geschichtlichen Auffassungen pflichte ich durchaus bei; ich habe selbst nachdrücklich hervorgehoben daß Rom im Mittelalter sprachlich zum Süden gehörte, erst später toskanisiert wurde – das Altromaneske hatte mich schon 1868 darauf geführt. Aber wenn wir diesen Weg betreten wollen, so gelangen wir nicht zu einer doppelten, sondern einer mehrfachen Verschiedenheit; alle paar Jahrhunderte haben die innern Grenzlinien der Romania anders ausgesehen. Die Frage die mich in erster Linie beschäftigt, ist eine ganz allgemeine: welches Verfahren haben wir zu befolgen um eine Gruppe geschichtsloser Mdd. [=Mundarten] zu ordnen oder von Mdd., deren Geschichte wir zunächst nicht berücksichtigen wollen? Ich bitte Sie nun möglichst bald – die Postbeförderung |7| nimmt so viel Zeit in Anspruch – auf diese Frage zu antworten: besteht wenn man in Frankreich oder Italien eine nord-südliche oder ost-westliche Linie zieht, sprachliche Kontinuität oder nicht Das heißt, ist die Differenz zwischen a und z nicht größer als die zwischen zwei anderen Punkten der Linie, a und m, m und z, a und b, b und z usw. Daß diese Kontinuität keine gleichmäßige ist (die Differenzen können ja auch zwischen naheaneinander liegenden Punkten sehr groß sein, also als Dialektgrenzen angesprochen werden), gebe ich ja natürlich zu, aber das hindert doch nicht die Berechtigung meiner Betrachtungsweise; sehen wir z. B. a b c d e f g h13 so gehören zwar a b c d einer- und e f g h anderseits eng zusammen, und doch ist die Differenz zwischen a und h größer (6) als die zwischen den beiden Gruppen, d und e (4). - Wenn Ihnen meine Anzeige von Saussure nicht sehr zusagt, so kann das nur auf der Verschiedenheit unserer Anschauungen beruhen; ich kann mich mit der Gegenüberstellung von Diachronie und Synchronie nicht befreunden, weil sie sich nicht innerhalb der Wissenschaft hält (Forschung : Lehre).14
Den „gewaltigen Anreiz“ im Allgemeinen, den das Buch gibt, habe ich doch gewiß nicht verkannt oder verschwiegen; was ich sonst von Besprechungen gelesen habe, äußert sich viel zurückhaltender. – Zu der „Milz“ hat sich noch mancherlei ergeben was ich an L. Spitzer geschickt habe, der es in seiner Anzeige meines Aufsatzes um die ihn F. Neumann ersucht hat, verwerten wird.15 Ihre Hinweise wegen des f von męufo sind sehr beachtenswert; ich hatte auch an südfranz. męufo blaß, entfärbt, męuro = mauro malvenfarbig gedacht. Arag. banzo überrascht mich (den Borao habe ich jetzt nicht zur Hand), nicht das |8| n (vgl. minza, spienza). Die Geographie erhebt freilich mancherlei Einsprache, aber es ist doch nur die heutige; müssen wir nicht beständig mit dem Untergang von zahlreichen Zwischenformen rechnen? Was die keltischen Wörter in Rätien anlangt, so erinnere ich an mac Sohn, dessen keltischen Ursprung Meyer-Lübke mit Unrecht zurückweist; die Tenuis in diesem Wort ist verdoppelt und hat nach H. Pedersen I, 12716 die Labialisierung vor s und t verloren: mechdeyrn, Machtiern, wohl aber noch sonst, vielleicht mundartlich; vgl. Maccus als altbrit. PN ebd. I, 477. Gehen Sie doch der Sache nach; mir fehlt es jetzt an Zeit und Kraft.
Herzlichst Ihr
H. Schuchardt
1 Text auch bei Heinimann, 1972, 3-6.
2 Nicht erhalten.
3 Paul Wilhelm Corssen, Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache. Von der königlichen Akad. d. Wiss. in Berlin gekrönte Preisschrift, Leipzig: Teubner, 1858-1859, 2 Bde.
4 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876), Klass. Philologe in Bonn. Am Ende von Schuchardts Dissertation De sermonis Romani plebei vocalibus (Bonn 1864) heißt es: „Mox me contuli Bonnam, ubi audiui prodocentes Iahnium, Monnardum, Ritschelium, Springerum. Insigni Ritscheli Iahnique comitate factum est, ut in seminarium philologicum reciperer, cuius per duo semestria fui sodalis ordinarius. Praeterea me exercitationum epigraphicarum particem esse benigne concessit Ritschelius". – Über Schuchardts Verhältnis zu Ritschl vgl. seinen Brief an Jud vom 19.9.1917.
5 Schuchardt widmet seinen Vokalismus des Vulgärlateins (I, 1866) „seinen hochverehrten Lehrern, den Herren Friedrich Diez und Friedrich Ritschl“.
6 Gemeint ist Der Vokalismus des Vulgärlateins, im folgenden abgekürzt als Vok. -Über das Verhältnis zu Ritschl vgl. den Brief vom 19.9.1917.
7 Schuchardt, „[Rez. von:] Diez, Frdr., Romanische Wortschöpfung. Anhang zur Grammatik der romanischen Sprachen“, Literarisches Zentralblatt für Deutschland 28, 1877, 118-120.
8 August Schleicher (1821-1868), Sprachwissenschaftler in Bonn; vgl. HSA 10058-10060.
9 Karl von Ettmayer (1874-1938), österr. Romanist u. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 0280-02817.
10 Johannes Schmidt (1843-1901), deutscher Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 10093-10131. Schuchardt hatte in einer Leipziger Vorlesung 1870 die Wellentheorie vorgetragen, die sich von der von einigen supponierten Meinung der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze unterschied. Schmidt entwickelte dieses Konzept weiter.
11 Dazu bemerkt Schuchardt am Rand: „ich bin ihr übrigens kürzlich in einem älteren Werk (Whitney?) begegnet“.
12 Am 30. April 1870 hielt Schuchardt in Leipzig seinen Probevortrag „Über die Klassifikation der romanischen Mundarten“. Erst 30 Jahre später veröffentlichte er ihn unverändert (Graz 1900).
13 Darunter finden sich im Original jeweils liegende geschweifte Klammern und im Spatium die Zahl 4.
14 Jud hat Schuchardt gleich nach dem Erscheinen ein Exemplar von F. de Saussures Cours de linguistique generale geschickt, vgl. Brief 1.
15 Leo Spitzer, „ [Rez. von:] Hugo Schuchardt, Zu den romanischen Benennungen der Milz“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 38(9/10), 1917, 322-330.
16 Holger Pedersen, Vergleichende Grammatik der keltischen Sprachen. 1. Einleitung und Lautlehre, Göttingen: V & R, 1908 (Bd. 2 1909).
Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ05)