Hugo Schuchardt an Jakob Jud (29-HSJJ01)

von Hugo Schuchardt

an Jakob Jud

Graz

28. 08. 1916

language Deutsch

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Jakob Jud (29-HSJJ01). Graz, 28. 08. 1916. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8509, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8509.


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Graz, 28. Aug. '161

Lieber Freund,

Ich schickte mich gerade an Ihnen für den Aufsatz Guarnerios (und ihm durch Sie) zu danken2 als ich den stattlichen Saussureband3 durch Ihre Güte erhielt. Ich hatte mir ihn dünner gedacht. Sie erinnern mich durch ein paar Worte an das kostbarere Geschenk das Sie mir 1914 gemacht haben. So stehe ich denn tief in Ihrer Schuld.

Ich habe bisher nur Zeit gehabt das Buch aufzuschneiden,|2| kann also noch kein Urteil fällen. Es macht mir einen sehr gewinnenden Eindruck, auch vermittels der einfachen Bildchen und Umrisse, welche Tafelzeichnungen wiedergeben. Sie bewahren das Gepräge der Vorlesungen, deren schriftliche Form aufgegeben werden musste. Es ist das schade; so manche wissenschaftliche Darstellung hat sich gerade in das Gewand von Vorlesungen gekleidet, um zu werben und zu wirken. Auf jeden Fall müssen wir den Herausgebern für ihre Leistung sehr erkenntlich sein.

Ich werde mich besonders bemühen festzustellen was Saussure über die Probleme gedacht hat die|3| mir am Herzen liegen. Wahrscheinlich hat er sie nur gestreift; es liegt ja im Wesen der Vorträge „dogmatisch“ zu sein, Streiterör[ter]ungen auszuschliessen. Auf einer einzigen Stelle ist bisher mein Blick haften geblieben: S. 268 f. Die beiden Fragen: Was ist Sprachverwandtschaft? und wie lässt sie sich erweisen? sind nicht erledigt. Der Satz: La parenté universelle des langues n’est past probable, ruft nach Begründung.

Das “teleologische Moment“ in der Sprachentwickelung wird S. wohl berührt haben, in einem oder dem anderen Sinne. Ich überzeuge mich mehr und mehr von seiner Bedeutung und habe das in bezug auf die Hiatustilgung kürzlich ausgesprochen (im Eingang|4| zu meiner „Berberische Hiatust.“,4 von der zwei Bogen gedruckt sind – nun stockt der Druck).

S. s. Buch wird mir lebhafte Anregung gewähren und reichen Nutzen wenn ich noch dazu komme – wie ich seit sehr langer Zeit plane – meine Anschauungen allgemein-sprachwissenschaftlicher Art in einer kurzen Schrift zusammenzufassen. Aber ich fühle mich im heurigen Sommer müder denn je. Grüssen Sie gelegentlich Gauchat bestens von mir; ich glaube, ich bin ihm noch den Dank schuldig für seinen Euryantheaufsatz (den ich schon in der N.Z.Z. gelesen hatte) und einen anderen über Schweizer Französisch5 den er mir sogar, falls ich nicht irre, zweimal geschickt hat. Von W. Nedwed6 ist noch keine Nachricht gekommen; ich habe auf eigene Hand an Nyrops die Bitte gerichtet von Kopenhagen aus eine Nachforschung zu versuchen.

Ihr getreuer

H. Schuchardt


1 Der Brief ist keine Antwort auf HSA 05176, doch ab jetzt kann man von einem „Briefwechsel“ sprechen, da Stücke von beiden Korrespondenten erhalten sind.

2 Pier Enea Guarnerio, Nuove note etimologiche e lessicali Côrse , Mailand: Hoepli, 1916 (enthält Sonderdrucke aus: Rendiconti vol. 69, 1916, 74-89, 159-170, 249-262, 298-306). – Zu Guarnerio (1854-1919) vgl. HSA 04181-04193.

3 Ferdinand de Saussure / Charles Bally / Albert Sechehaye, Cours de linguistique générale; Avec la collab. de Albert Riedlinger, Lausanne: Payot, 1916.

4 Schuchardt, Berberische Hiatustilgung, Wien: Hölder, 1916 (Sitzungsberichte d. Wien. Ak. 182, 1916, 1-60). – Hier S. 10: „Diese Ablehnung teleologischer Betrachtungsweise widerrufe ich nun, oder, besser gesagt, ich berichtige den Ausdruck. Sie steht nämlich nur scheinbar im Widespruch zu dem lebhaften Kampf, den ich gegen die Auffassung der Sprache als eins Organismus führte; sie ist geradezu aus ihm geboren“.

5 Gauchat, „ Webers Euryanthe. Eine Textgeschichte “, NZZ 1916 (Sonderdruck, 29 S.); Schweizer-Französisch, Chur 1915; vgl. HSA Brief 16-03608.

6 Walter Nedwed († 1916), Romanist.

Faksimiles: Die Publikation der vorliegenden Materialien im „Hugo Schuchardt Archiv” erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Jaberg-Archiv, Universität Bern (Institute für Romanische Sprachen und Literaturen und Jaberg-Bibliothek). (Sig. HSJJ01)