Jakob Jud an Hugo Schuchardt (23-05171)

von Jakob Jud

an Hugo Schuchardt

Zürich

20. 01. 1915

language Deutsch

Zitiervorschlag: Jakob Jud an Hugo Schuchardt (23-05171). Zürich, 20. 01. 1915. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8503, abgerufen am 11. 12. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8503.


|1|

Verehrter Meister,

Mit der gleichen Post sende ich Ihnen den Vortrag Spitteler in seiner Fassung wie er als Vortrag gehalten wurde.1 Dabei bitte ich Sie sich dessen zu erinnern, dass Spitteler zu Deutschschweizern und nicht zu Deutschen als schweizerischen Bürgern gesprochen hat. Es scheint mir daher wenig angebracht, wenn deutsche Schriftsteller in eine Angelegenheit sich mengen, die uns in erster Linie anging und für die wir auch zuständig sind. Dass man mit |2| Spitteler nicht in allen Punkten einigzugehen mag, das mag selbstverständlich sein, aber es wird m. E. immer eine Ruhmestat des Bürgers (und nicht als Dichter ist er hier aufgetreten) Sp. sein, uns Schweizern an gewisse grosse intereuropäische Pflichten ermahnt zu haben. Die Antwort von Avenarius werden Sie bereits im Kunstwart gelesen haben:2 hierauf die Antwort von |1|Bovet lege ich ebenfalls bei.3 – Ihr Unwille gegen Portugal begreife ich, meine aber, dass es aber des grossen Deutschen würdiger wäre, mit stiller Verachtung darüber hinwegzugehen.4

Herzliche Grüsse

Jud.


1 Carl Spitteler, Unser Schweizer Standpunkt; Vortrag gehalten in der Neuen Helvet. Gesellschaft, Gruppe Zürich, am 14. Dezember 1914 , Zürich: Rascher, 1915 (Schriften für Schweizer Art und Kunst; 2). Der eindringliche Vortrag endet: „Wenn ein Leichenzug vorüber geht, was tun Sie da? Sie nehmen den Hut ab. Als Zuschauer im Theater vor einem Trauerspiel, was fühlen Sie da? Erschütterung und Andacht. Und wie verhalten Sie sich dabei? Still, in ergriffenem, demütigem, ernstem Schweigen. Nicht wahr, das brauchen Sie nicht erst zu lernen? Nun wohl: eine Ausnahmegunst des Schicksals hat uns gestattet bei dem fürchterlichen Trauerspiel, das sich gegenwärtig in Europa abwickelt, im Zuschauerraum zu sitzen. Auf der Szene herrscht die Trauer, hinter der Szene der Mord. Wohin Sie mit dem Herzen horchen, sei es nach links, sei es nach rechts, hören Sie den Jammer schluchzen, und die jammernden Schluchzer tönen in allen Nationen gleich, da gibt es keinen Unterschied der Sprache. Wohlan, füllen wir angesichts dieser Unsumme von internationalem Leid unsere Herzen mit schweigender Ergriffenheit und unsere Seelen mit Andacht, und vor allem nehmen wir den Hut ab. Dann stehen wir auf dem richtigen neutralen, dem Schweizer Standpunkt“ (Quelle: Wikisource).

2 Ferdinand Avenarius, „ Über die Grenzen – an Karl Spitteler “, Kunstwart Heft 8, Januar 1915, 41-47.

3 Bovet, „ Offener Brief an Ferdinand Avenarius “, Wissen und Leben 15, 1914-15, 203f.

4 Vgl. PK 05164.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05171)