Josef von Karabacek an Hugo Schuchardt (24-05277)

von Josef von Karabacek

an Hugo Schuchardt

Wien

20. 12. 1909

language Deutsch

Schlagwörter: Etymologie Frankreich Tunis Algier

Zitiervorschlag: Josef von Karabacek an Hugo Schuchardt (24-05277). Wien, 20. 12. 1909. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8447, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8447.


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Wien den 20. Dezember 1909

Verehrter Herr Kollege!

Können Sie mir, bitte, die Etymologie des Wortes hennin geben? Die Hennins sind hohe konische Aufsätze des Frauenkopfputzes, von deren Spitzen Schleier herabwallten. Die Formen u. Zuthaten waren mannigfaltig, ihre höchste Höhe erreichten sie zwischen 1440-1480 in Burgund (wo der Hof sie propagierte) u Frankreich; von 1483 |2| wurde deren Länge reduziert. Die mir zur Verfügung stehenden französ. Wörterbücher geben mir keine Auskunft. Ich kann nachweisen, daß diese Kopftracht wie so manche andere Kostümstücke jener Zeit, vom Oriente her kam. Die Henninformen sind heute noch bei den Drusen- u Maroniten-Weibern im Libanon im Gebrauch.1 [1 Auch bei den Jüdinnen von Tunis u Algier, auch bei Türkinnen z. b. von Tschanah-Kalè usw.] Meine älteste Nachricht über diese Art Kopfbedeckung geht ins X. Jhdt n. Chr. - Fast scheint mir, als wäre das franz. hennin ein arabisches Lehnwort.

|3| Ich habe folgende Stelle: [arabischer Text] „Sie zog aus einem Packete, das sie bei sich hatte, ein Hemd, Beinkleider, ein Hanînî, ein Oberkleid und ein broschirtes Kopftuch“. Hanînî muß also die Kopfbedeckung sein, zu welcher das Kopftuch (Mindîl) gehörte. Hanîn bedeutet „lieblich, anmuthig“. Ich wäre also sehr begierig zu erfahren, wie von den Romanisten „hennin“ erklärt worden ist? Ich benöthige die Auskunft für eine Arbeit, die ich |4| mit Neujahr abzuschließen hoffe.1

Verzeihen Sie diese Belästigung

Ihrem herzlichst ergebenen
Karabacek


1 Karabacek, Abendländische Künstler zu Konstantinopel im XV. und XVI. Jahrhundert. I. Italienische Künstler am Hofe Muhammeds II. des Eroberers 1451-1481, Wien 1918 (Denkschriften, 62. Band, 1. Abhandlung; Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-Hist. Klasse), 10ff. (mit Hinweis auf Godefroy, Dictionnaire IV, 449f.; s. a. Jennifer Scarce, Women’s Costume of the Near and Middle East, London and New York: Routledge, 2003, 6, 46, 190. - Die Etymologie von hennin ist unsicher, möglicherweise eine Analogie zu niederl. Henninck (Hahn), aufgrund der Ähnlichkeit der Kopfbedeckung mit einem Hahnenkamm. - Von Schuchardt liegt leider keine Antwort vor.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05277)