Giovanni Scartazzini an Hugo Schuchardt (02-09986)

von Giovanni Scartazzini

an Hugo Schuchardt

Walzenhausen

21. 07. 1875

language Deutsch

Schlagwörter: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie Fryba-Reber, Anne-Marguerite (2013) Diez, Friedrich Christian (1836–1838) Diez, Friedrich Christian (1853) Diez, Friedrich Christian (1826) Diez, Friedrich (1829) Schuchardt, Hugo (1877)

Zitiervorschlag: Giovanni Scartazzini an Hugo Schuchardt (02-09986). Walzenhausen, 21. 07. 1875. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8286, abgerufen am 30. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8286.


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[Walzenhausen, 21.7.1875]

Hochverehrtester Herr!

Ihre Güte und Freundlichkeit gibt mir den Muth, den brieflichen Verkehr mit Ihnen, aus welchem ich mir viele Belehrung verspreche, fortzusetzen. Sollte Ihnen dieß zu lästig sein, so wollen Sie diese Zeilen nur unerwidert lassen. Ich weiß nämlich nicht, inwieweit Ihre Zeit Ihnen erlaubt, sich mit mir abzugeben; daß es an Willen nicht fehlen würde, dessen bin ich vollkommen überzeugt.

Wie gerne würde ich es sehn und wie sehr mich freuen, wenn die von Ihnen am Schlusse Ihres werthen Briefes1 in Aussicht gestellte Gelegenheit zu persönlicher Unterhaltung sich bald finden ließe! Ich hatte gehofft, im Laufe dieses Jahres eine Reise nach Deutschland unternehmen zu können; leider haben die nicht eben sehr erfreulichen Verhältnisse diese Aussicht auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben. So bleibt mir vorläufig nur die Hoffnung übrig, daß Sie bei eventuellem Besuch unserer Schweiz auch mich mit einem möglichst langen Besuche erfreuen werden. Unser verehrter Freund, Hr. GR. Witte wird Ihnen bereits mitgetheilt haben, daß ich im Begriff stehe Walzenhausen, wo ich schmerzliche Erfahrungen machen mußte, wieder zu verlassen und mich nach meiner engeren Heimat zu begeben, woselbst ich einen Ruf als Pfarrer nach Soglio2 angenommen. In Zürich eröffnete sich mir zwar die Aussicht, einen akademischen Lehrstuhl zu besteigen,3 doch bewogen mich triftige Gründe auf diese mir zugedachte Ehre zu verzichten. Über diese Verhältnisse habe ich mich in meinem neulichen Briefe an Hrn. Witte ausführlich ausgesprochen und denselben ersucht Sie mit dem Inhalt in Kenntniß zu setzen, weßhalb Sie mir freundlich erlassen wollen, für weiter darauf einzutreten.

In Soglio wird mir wieder volle Musse zu wissenschaftlichen Studien werden, indem das Amt in der kleinen Gemeinde wenige Stunden in der Woche in Anspruch nimmt. Neben der Arbeit am Dante-Commentar und an der Literaturgeschichte gedenke ich hauptsächlich die Lücken in meinem Wissen auf dem Gebiete der romanischen Philologie möglichst auszufüllen. Namentlich in das Provençalische und Altfranzösische möchte ich mich noch tiefer hineinarbeiten und möchte mir deßhalb erlauben, Sie um einige literarische Anweisungen zu ersuchen. Diez’ Gram., Wörterb., Poesie der Troub. u. Leben u. Werke der Troub. besitze ich; deßgleichen Bartsch’s Chrest . u. Grundriß. Dagegen will es mir gar nicht gelingen Raynouard’s Choix u. Fauriel’s Hist. de la poésie prov. aufzutreiben; man sagt beide Werke seien längst vergriffen.4 Könnten Sie mir andere Werke nennen, die für das Studium des Provençalischen von Wichtigkeit sind?

Ihre Bemerkung im Centralblatt, das Linguistische betreffend, hatte ich wie es scheint nicht ganz richtig verstanden. Ich bezog dieselbe blos auf die Kenntniß des Altitalienischen und glaubte daher sie nicht ganz verdient zu haben. Erst jetzt geht mir die Ahnung auf, daß Sie

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nicht eine einzelne Sprache, sondern das Linguistische im Allgemeinen im Auge gehabt haben möchten. War es so gemeint, dann muß ich allerdings gestehen, daß Sie Recht hatten. Ich habe in dieser Richtung noch nicht viel mehr als die Arbeiten von Nannucci, Blanc u. Diez studirt,5 letztere nicht einmal mit der Gründlichkeit die wohl nöthig wäre. Sie wollen aber eine Entschuldigung meiner Unwissenheit darin finden, daß ich von Haus aus Theolog bin, in den ersten Jahren meiner pastoralen Laufbahn mit allem Eifer und einer einseitigen Ausschließlichkeit mit philosophischen, namentlich metaphysischen und psychologischen Studien mich befaßte und erst seit sieben Jahren mich ganz der romanischen Philologie zuwandte. In diesen Jahren nahmen aber meine literarischen Arbeiten die meiste Zeit in Anspruch; nehmen Sie dazu, daß ich in Chur regelmässig 28 bis 30 Stunden wöchentl. Unterricht zu ertheilen hatte und hier nur wenige Stunden zu außeramtlichen Arbeiten erübrigen konnte, so werden Sie wohl kaum den strengen linguistischen Maaßstab anwenden können; ja, Sie können sogar annehmen, daß ich auf diesem Gebiete vorläufig erst als Dilettant anzusehen bin.

Sehr dankbar bin ich für Ihre Bemerkungen zu meiner Arbeit6 und werde solche jederzeit mit größtem Dank entgegennehmen. Sie werden es mir aber wohl gestatten meinerseits Einiges darüber zu erinnern.

Ad Inf. V, 28: Ihre sehr scharfsinnige Bemerkung, die meines Wissens eine ganz neue Deutung enthält, hat mich zunächst frappirt und habe ich sofort in meinem Handexemplar dieselbe vermerkt. Bei näherem Nachdenken sind mir aber doch wieder Bedenken aufgestiegen. Die Sphärenharmonie ist für Dante, wo er sie zum ersten male vornimmt, eine novità (cfr. Parad. 1,76ff.), also eine Musik, die auf Erden nicht vernommen wird. Inf. I,60 u. V, 28 will aber offenbar die Dunkelheit, die Finsterniß bezeichnet werden und zwar im Gegensatz nicht zur Harmonie der Himmel, sondern zum irdischen Sonnenschein. Daher will mir die Beziehung des Là dove il sol tace und des d’ogni luce muto auf die platonische Sphärenharmonie kaum zulässig scheinen. Es ist außerdem die scala nicht außer Acht zu lassen: in der selva oscura das Licht, bezw. die Sonne tace; in der Vorhölle das Licht ist fioca (III,75), weiter unten muta. Also Grade der Finsterniß.

VI, 105. Ich meine daß nach der Auferstehung nicht allein die Seelenpiù perfette sein werden, sondern daß auch dann erst die Verdammniß sich vollenden wird, daß also auch die dannazione perfetta, d.h. eine vollendete sein werde, und zwar eben deßhalb, weil die anime saranno più perfette.

X, 17. In v. 7 hat Dante den allgemeinen Wunsch ausgesprochen, die in den glühenden Särgen liegenden Seelen zu sehen, verschwiegen aber den besonderen Wunsch, seine compatriotti, darunter namentlich Farinata und vielleicht auch den Vater seines Freundes Guido, zu sehen und mit ihm zu sprechen.

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X, 25. Entschuldigen Sie, Verehrtester! Hier ist mir Ihre Logik nicht ganz klar. An den Wortformen tegno, dicer, pur mo soll der Dichter nicht als Florentiner erkannt worden sein, weil – dieselben Formen auch sonst bei Dante vorkommen? Freilich kommen sie auch sonst vor, aber ist es nicht eben der florentinerDante, der sie braucht? Nach v. 25 hat ihn nur einmal Farinataan der Sprache als einen Florentiner erkannt, und ich muß daher an meiner Auslegung so lange festhalten, bis man mir nachweist, was für Ausdrücke es sonst in Dante’s Worten waren, welche ihn als gebürtigen Florentiner manifesto machten.

XII, 120. Colar prov. = lat. colere bei Guillem Peire von Casals (od. Cahors): E m’acuelh e’mcol

wozu zu vrgl. Nannucci, Anal. crit. pag. 337. Anm. 2: Col, „da colar, lat. colere, nel senso di servire, aver cura, rispettare, venerare, onorare.“ Cfr. auch Di Siena, Commedia di D. A. Vol. 1 pag. 175. Ob ich damals, als ich den XII. Ges. des Inf. commentirte noch andere Beispiele fand, kann ich mich nicht mehr entsinnen, gerade schlagend dürfte das eben angeführte allerdings kaum sein.

Sie werden es mir wohl nicht verargen, daß ich so frei bin, für ein geistiges Kind noch eine Lanze zu brechen. Völlig Recht muß ich Ihnen hingegen in Betreff des troppo geben. Besser wäre es immerhin gewesen zu Inf. VII, 25 das ursprünglich von mir bemerkte: „da trans opus = di là dal bisogno“. Ich meine Di Siena, dessen Kommentar damals eben erschienen war7 und in philologischer Hinsicht so sehr gerühmt wurde, habe mich verleitet das trans bei der Korrektur in ultra abzuändern (cfr. Di Siena, I. pag. 108).

Der Purgatorioband ist nun – wenigstens im Satz – vollendet und dürfte in einigen Wochen erscheinen. Sie werden mir wohl gestatten Ihnen ein Ex. direct zustellen zu lassen. Wollen Sie die Freundlichkeit haben demselben ebenfalls eine kurze Besprechung zu Theil werden zu lassen, so soll es mich nur freuen.8 Zu Ausstellungen wird der dickleibige Band (XXII-817 S.) noch mehr Veranlassung geben als der erste. Ich hoffe aber daß die äußerst mühsame Arbeit auch einige Anerkennung finden werde.

Jedenfalls werde ich Ihnen wissen lassen, sei es direct, sei es durch Hrn. Witte, wenn ich nach Soglio übersiedeln werde (wahrscheinlich im September). Kommen Sie vorher in die hiesige Gegend, so darf ich hoffen vielleicht Sie hier zu sehen; andernfalls werden Sie wohl das eine oder andere mal Ihren Weg durch Praegallia9 nehmen, in welchem Falle ich Sie freundlichst einladen möchte das Pfarrhaus in Soglio durch Ihren werthen Besuch zu beehren. Inzwischen verharre ich mit nochmaligem besten Danke auch mit aufrichtiger Hochachtung

Walzenhausen 21 Juli 1875.

Ihr ergebener

Scartazzini


1 Leider nicht erhalten, da es keinen NL Scartazzini gibt.

2 Der Ort Soglio, dt. Sils, im Bergell, hat nur wenige Einwohner; seit 1552 waren die Bewohner reformiert; die Kirche stammt aus dem 14. Jhdt.

3 Fryba-Reber stellt dies etwas anders dar ( Anne-Marguerite Fryba-Reber, Philologie et linguistique romanes. Institutionnalisation des disciplines dans les universités suisses (1872-1945), Leuven [u.a.] 2013 (Orbis / Supplementa; 40), 118. Es handelte sich um einen neu geschaffenen Lehrstuhl, den von 1876-89 Heinrich Breitinger (1832-1889) innehatte.

4 Scartazzini listet hier wichtige romanistische Standardwerke auf, und zwar Friedrich Diez, Grammatik der romanischen Sprachen, Bonn 1836–38, 3 Bde.; 4. Aufl., Bonn. 1876–77; Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen, Bonn 1853, 2 Bde.; 4. Aufl. v. A. Scheler, Bonn 1878; Die Poesie der Troubadours, Zwickau 1826; 2. Aufl. v. Bartsch, Leipzig 1883; Leben und Werke der Troubadours, Leipzig 1829; 2. Aufl. 1882; Karl Bartsch, Chrestomathie de l'ancien Français (VIIIe–XVe siècles), accompagnée d'une grammaire et d'un glossaire, Leipzig 1866 ; Grundriß zur Geschichte der provenzalischen Literatur, Elberfeld 1872 ; François Raynouard, Choix des poésies originales des troubadours, Paris 1816-21 ; Claude Fauriel, Histoire de la poésie provençyle, Leipzig-Paris 1847.

5 Vincenzo Nannucci (1787-1857), ital. Philologe, Professor und Bibliothekar; seine Hauptwerke sind Voci e locuzioni italiane derivate dalla lingua provenzale, Florenz 1840; Manuale della letteratura del primo secolo della lingua italiana, Florenz 1856, 2 Bde. u.a. ; von Ludwig Gottfried Blanc (1781-1866) stammen mehrere Arbeiten zu Dante; Friedrich Christian Diez (1794-1876), Verf. früher romanistischer Standardwerke, z.B. Grammatik der romanischen Sprachen, Bonn 1836-38; Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen, Bonn 1853 u.a.

6 Diese müssen in einem heute verlorenen Brief gemacht worden sein, da in der Rezension Schuchardts im Literaturblatt als einziges Dante-Zitat Inf. VII, 1 angesprochen wird.

7 Commedia di Dante Alighieri con note di Gregorio di Siena, Neapel 1867-70. Di Siena (1812-1887) war Lehrer und Danteforscher in Neapel.

8 Schuchardt, Dante Alighieri, La Divina Commedia II. [hg. von] G. A. Scartazzini, Literarisches Centralblatt 28, 1877, 153-155. Auch diese Rez. ist freundlich-wohlwollend, kritisiert allerdings abermals die allzu große Nähe zu Nannucci.

9 Lat. Name für das ital. Val Bregaglia und das dt. Bergell.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09986)