Giovanni Scartazzini an Hugo Schuchardt (01-09985)

von Giovanni Scartazzini

an Hugo Schuchardt

Walzenhausen

30. 06. 1875

language Deutsch

Schlagwörter: language Italienisch Schuchardt, Hugo (1874) Bellini, Bernardo/Tommaseo, Niccolò (1865) Schuchardt, Hugo (1866)

Zitiervorschlag: Giovanni Scartazzini an Hugo Schuchardt (01-09985). Walzenhausen, 30. 06. 1875. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2017). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8285, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8285.


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[Walzenhausen, 30.6.1875]

Seiner Wohlgeboren
Herrn Prof. Dr. Schuchardt in Halle

Innigst verehrter Herr Professor!1

In Gedanken, und auch im Vorwort zu dem demnächst erscheinenden zweiten Band meines Dante-Kommentars, hatte ich mir erlaubt mit Ihnen zu verkehren,2 denn ich habe mich wohl nicht geirrt, daß ich in dem „H. S…dt“, womit die kurze Rezension meines ersten Bandes im Centralblatt (1874. N°.52) unterzeichnet ist, Ihren werthen Namen zu finden glaubte.3 Zu einem directen Verkehr bot sich mir indeß keine Gelegenheit dar, so erwünscht mir ein solcher, seitdem ich das Vergnügen hatte in Chur Ihre werthe Bekanntschaft zu machen,4 auch gewesen wäre. Nun fühle ich mich aber verpflichtet brieflich bei Ihnen einzukehren, auch Ihnen meinen wärmsten Dank für Ihre Güte und Nachsicht auszusprechen. Der Antrag zu der für mich so ehrenden Ernennung zum Dr. phil. h.c. ist, wie mir unser verehrter Freund Witte5 berichtet, von Ihnen und von Ihrem Hrn. Kollegen Erdmann6 gestellt worden.7 Gewiß irre ich nicht, wenn ich von der Voraussetzung ausgehe, daß die Anregung hierzu hauptsächlich von Ihnen ausgegangen ist, weßhalb ich Sie meinen speciellen Dank anzunehmen bitte. Möchten Sie mir auch Gelegenheit geben, meine Dankbarkeit irgendwie auch durch die That, statt blos durch Worte zu beweisen! Die mir zu Theil gewordene Ehre hat mich um so mehr gefreut, als ich vielleicht hoffen darf, daß Sie mich der Erfüllung meines Lebenswunsches, eine Lehrstelle auf einer deutschen Universität zu bekleiden, um einen Schritt näher bringe.

Auf die Recension im Centralblatt habe ich im Vorwort zum zweiten Bande Einiges zu antworten mir erlaubt.8 Sie werden, wie ich hoffe, nichts Unfreundliches darin finden, obwohl das Vorwort geschrieben und gedruckt war, bevor ich diesen Beweis Ihrer Freundlichkeit erhielt. In einigen Ausstellungen hat die Recension vollkommen Recht, doch scheint mir Einiges etwas zu streng beurtheilt worden zu sein. Zu Inf. VII, 1 habe ich die Erklärung blos als Vermuthung gegeben;9 in der Accentuation und Aspostrophierung bin ich ganz bestimmten Grundsätzen gefolgt. Daß deren Anwendung hin und wieder überflüssig erscheine gebe ich in Bezug auf Kenner der Sprache zu; allein die Ausgabe mußte auch solche Leser ins Auge fassen, die mit dem Italienischen nicht vollkommen vertraut sind. Die „Unzulässigkeit“ hingegen wollen Sie mir gütigst erlauben zu bezweifeln.10 Übrigens findet sich in meiner Ausgabe wohl kein

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einziger Accent, der nicht auch in der Ausgabe eines Sprachkenners wie Tommaseo zu finden ist,11 ja Tommaseo wendet deren noch viel mehr an als es bei mir der Fall. Der Quasi-Tadel über zu große Ausführlichkeit macht mich beinahe besorgt und ängstlich. Wenn das am grünen Holze geschieht, was soll aus dem dürren werden? Der zweite Band ist nämlich um das Doppelte umfangreicher geworden als der erste! Ich hoffe aber doch, daß, wenn Sie auch den zweiten Band zu recensiren die Freundlichkeit haben,12 Sie der wahrhaft riesigen Mühe, der ich mich unterzogen, einige Gerechtigkeit widerfahren lassen. Das Werk ist nun freilich annähernd das geworden, was ich ursprünglich zu geben beabsichtigte.

Nun wollen Sie mir gütigst noch eine ergebene Frage gestatten. Seit langer Zeit beschäftige ich mich, neben meinen Dante-Arbeiten, mit Vorarbeiten zu einer Geschichte der ital. Literatur und beabsichtige ein Buch zu schreiben, das der deutschen Literatur noch fehlt, nämlich eine wissenschaftliche Bearbeitung der ital. Literaturgeschichte. Der Abschnitt über den Ursprung der ital. Sprache ist vor bereits fünf Jahren geschrieben worden, doch habe ich mich von der Nothwendigkeit überzeugt, denselben neu zu bearbeiten. Ich kenne nun Ihr vielgelobtes Werk – Vocalismus des Vulgärlateins13 – nicht aus eigener Anschauung, da es weder in Chur noch in S. Gallen auf den Bibliotheken zu finden ist und ich es trotz meiner Bücherleidenschaft nicht eingeheimst habe. Ich wende mich aber gewiß an die beste Quelle, wenn ich Sie anfrage, ob Sie darin auch die Frage nach Entstehung und Entwicklung der romanischen Sprachen in den Kreis Ihrer Untersuchungen gezogen haben? Wenn ja, so würde ich natürlich meine Bibliothek damit bereichern. Sie werden in diesem Puncte wohl mit Fauriel, Du Méril, Littré, Diez, Blanc, Fuchs, Diefenbach u.a. im Wesentlichen übereinstimmen; auch ich glaube mich denselben in der Hauptsache anschließen zu müssen.

Empfangen Sie, verehrtester Herr Professor, meinen aufrichtigsten, innigsten Dank für Ihre Güte und genehmigen Sie die Versicherung meiner vollkommenen Hochachtung

Walzenhausen 30.VI.75

Ihr ergebener

Scartazzini

Meine Empfehlungen an Hrn. Geh. Rath Witte, dem ich nächster Tage schreiben werde.


1 Obwohl Scartazzini fünf Jahre älter ist als Schuchardt, tritt er ihm mit Respekt, man könnte fast sagen mit Ehrfurcht gegenüber!

2 Siehe unten Anm. 8.

3 Schuchardt, Anzeige von: Dante Alighieri, La Divina Commedia I. [hg. von] G. A. Scartazzini, Literarisches Centralblatt 1874, 1751-1752.

4 Möglicherweise in den Jahren 1866-68, als sich Schuchardt längere Zeit in der Schweiz aufhielt.

5 Karl Witte (1800-1883), Jurist und Danteforscher in Halle a.S., und damit zeitweise Kollege Schuchardts; vgl. auch seine Briefe an Schuchardt, Lfd.Nr. 12867-12870. Leider sind nur vier Briefe Wittes an Schuchardt erhalten; man darf annehmen, dass Schuchardt die Ehrenpromotion Scartazzinis nicht ohne Rücksprache mit Witte betrieben hat, der Scartazzini 1870 in Melchnau besucht hatte, vgl. Alfred von Reumont, „Carlo Witte. Ricordi di Alfredo Reumont“, Archivio storico italiano 16, 1885, 47-88, hier 73-74.

6 Johann Eduard Erdmann (1805-1892), seit 1839 Prof. der Religionsphilosophie in Halle a.S. Vgl. seine Korrespondenz mit Schuchardt (HSA, Lfd.Nr. 02769-02771) bzw. Schuchardts Brief an ihn vom 8.8.1873 (Halle a.S., UB Yi 4 I 218).

7 Die Ehrenpromotion war bereits am 29. Mai 1875 erfolgt. Eine Kopie der Urkunde findet sich in UAHW, Rep. 21, Nr. 545. Vgl. auch Sensini, Storia, 58.

8 La Divina Commedia di Dante Alighieri. Riveduta nel testo e commentata da G. A. Scartazzini. Volume secondo. Il Purgatorio, Leipzig 1875, xvii-xviii.

9 Diese Stelle, die Begrüßung der Jenseitswanderer Vergil und Dante durch Pluto, ist eine besondere Crux der Dante-Forschung, über die schon viel Tinte geflossen ist. Zum damaligen Forschungsstand vgl. Giovanni Ventura, L'incompreso verso di Dante „Pape satan pape satan Aleppe“ spiegato dopo cinque secoli e la nuova maniera di intendere una scena delle piu' celebrati della Divina Commedia, Mailand 1868. Scartazzini entscheidet sich für die „französische“ Lösung (Pas Paix, Satan, pas paix, Satan, à l’épée), schreibt aber in der Tat (S. 57 Anm.) „Io proporrei di leggere semplicemente …“

10 Diese Aussage verwundert, denn die dreibändige Ausg. Scartazzinis erschien bei F.A. Brockhaus in Leipzig in der „Biblioteca di autori italiani“ und ist konsequenterweise durchgehend in ital. Sprache kommentiert, was einen Leser mit guten bis sehr guten Italienischkenntnissen voraussetzt.

11 Niccolò Tommaseo (1802-1874), bedeutender italienischer Lexikograph, Verf. des 4bänd. Dizionario della Lingua Italiana, 1865-1879.

12 Vgl. den nächsten Brief.

13 Schuchardt, Der Vokalismus des Vulgärlateins, Leipzig 1866.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 09985)