Georg Friedrich Knapp an Hugo Schuchardt (01-05671)

von Georg Friedrich Knapp

an Hugo Schuchardt

Leipzig

16. 01. 1872

language Deutsch

Schlagwörter: Beilage zur Allgemeinen Zeitung Schuchardt, Hugo (1871) Dante, Alighieri (1918)

Zitiervorschlag: Georg Friedrich Knapp an Hugo Schuchardt (01-05671). Leipzig, 16. 01. 1872. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8248, abgerufen am 27. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8248.


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Leipzig 16. Jan. 1872
West Str. 61. B.

Lieber Schuchardt

Unser Tischgenosse Nitsche1, der die A. A. Zeitung hält, colportirt einige Artikel von Ihnen2 und jeder der dieselben bereits gelesen hat, erhöht durch beifälliges Urtheil meine Neugierde. Ich werde erst in einigen Tagen das Vergnügen haben, und benutze diese Frist (vor der Einschüchterung) Ihnen unter Kreuzband eine etwas ältliche Rede zugehen zu lassen, die ich Ihnen längst zugedacht habe.3

Ihre vielfachen, offenbar in guter Laune geschriebenen Artikel (zB. im

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Neuen Reich über die Ringe)4 gelten uns hier als Zeichen, dass Sie wenigstens nicht mehr ganz arbeitsunfähig sind, und bestärken uns in der Hoffnung, Sie im nächsten Sommer wieder unter uns zu sehen.5 Auch Walter (der blonde lievländische Philosoph)6 ist weg: zwei sehr fühlbare Lücken. Dagegen ist ein junger Hanauer, Dr. Rühl,7 als Privadocent für Geschichte eingetreten, der lang in Italien war und sehr lebhaft in der Unterhaltung ist. Ein anderer philologischer Docent ist Dr. Philippi8, hannöverisch umständlich, furchtbar gelehrt: der echte Norddeutsche. Ich glaube dass Sie hier – trotz Ihrer Ableugnung – doch unter den jungen Kräften zu wenige gefunden hatten, mit denen Sie durch Studien nähere Beziehungen pflegen konnten. Das würde vielleicht jetzt besser sein. Ich schrecke vor dem Gedanken

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zurück Sie als gothaischen Privatgelehrten und Sonderling isolirt zu sehen. Sie haben eine gewisse Geringschätzung für die Universität. Das furchtbare Opfer an Zeit und Leben, das man als Specialforscher gebracht hat, macht jeden skeptisch gegen die alltäglich breite Ueberlieferung des Gewöhnlichen, und leichter ist es, aus der trockenen grundlegenden Arbeit überzuspringen in das Extrem einer unruhig geistvollen Beleuchtung der Disziplin, als in den wohlgeordneten Gang des nützlichen Unterrichts. Aber haben wir denn nicht einen Ueberfluss an „genügenden“ Lehrern? Auch die Spezialisten gehören an die Hochschulen und die welche zugleich ihr Gepäck einmal ablegen können, erst recht. Es wäre zu traurig wenn Sie – sobald es Ihre Gesundheit erlaubt – nicht hieher zurückkehrten.

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Auch Windisch9 ist wieder hier, ich gehe viel mit ihm um, er ist eine so kindliche Natur dass man sich immer wieder von neuem über ihn freuen muss. Leskien ist seit seiner Verheiratung unsichtbar.10 Er ist eigenthümlich abgeschlossen, trotz seiner Jugend, in seinen Ansichten und bedarf daher weniger des Umgangs.

Ich bin diesen Winter wenig in Salongesellschaften gewesen, da ich dieselben schlecht vertrage (sie sind mir stimmungwidrig), aber sehr viel unter unsern Altersgenossen, und habe den Vortheil davon gehabt, einige Arbeiten zu vollenden und geistige Getränke wieder ziemlich zu vertragen. Ich hätte Ihnen noch viel einzelnes zu erzählen, von allerlei Vorträgen, gelesenen Büchern, „vorhabenden“ Abhandlungen usw., gering besuchten Collegien u. dgl. m. aber man kann nicht alles schreiben.

Mit den herzlichsten Wünschen für Ihre Gesundheit

Ihr
GFKnapp

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Leipzig 16. Jan 72.

P. S.

Ueber Spezialisten fällt mir ein:

Neulich las ich in der Nacht bei einem Glase Grog mit Rühl11 folgende Dantestelle (ich schreibe aus dem Gedächtnis):12

Mentre che gli occhi per la fronde verde

Ficcava io così, come far suole

Chi dietro all’uccellin sua vista perde,

Vidi etc.13

Die hochmütige Bezeichnung des Vogelstellers als eines der hinterm Vogel her sein Leben verliert, hat uns so überrascht, dass wir

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seitdem das Wort Steckenpferd durch das viel drastischere Uccellino14 ersetzen. Dies müssen Sie wissen um bei Ihrer Rückkehr die Unterhaltung zu verstehen, die allerdings täglich ähnlicher einer Diebssprache wird.

Ihr
GFK.


1 Hinrich Nitsche (1845-1902), deutscher Zoologe, seit 1871 Leipziger Privatdozent.

2 Das Schriftenverzeichnis in HSA weist fünf Beiträge Schuchardts für das Jahr 1871 in der „Beilage zur Allgemeinen Zeitung“ nach!

3 Vermutlich Knapp, Die neuern Ansichten über Moralstatistik. Vortrag, gehalten in der Aula der Universität zu Leipzig am 29. April 1871, Jena: Mauke, 1871. [„Moralstatistik“ ist der Zweig der Statistik, „welcher sich mit den öffentlich wahrnehmbaren Willenshandlungen des Menschen beschäftigt“] (wikipedia). – Möglich wäre auch „Ertragsteuer oder Einkommensteuer? Vortrag über die Steuerreform im Königreich Sachsen“, gehalten in der Gemeinnützigen Gesellschaft zu Leipzig am 20. November 1871.

4 Schuchardt, „Die Geschichte von den drei Ringen“, Im neuen Reich. Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 1, 1871, 481-485.

5 Der Hintergrund dieser Bemerkung ist nicht ganz klar. Laut Leipziger Vorlesungsverzeichnis hatte Schuchardt für das WS 1871-72 die folgende Lehrveranstaltung angekündigt: „Vergleichende Grammatik der romanischen Sprachen“ („in 3 zu best. St.“). Möglicherweise hatte er sie aber „aus Gesundheitsgründen“ nicht abgehalten!

6 Julius Guido Willhelm Hermann Walter (1841-1922), deutscher Philosoph, in Wolmar als Sohn des Superintendenten von Livland, Bischof Ferdinand Walter, geboren, 1873 in Jena habilitiert, lehrte er ab 1875 in Königsberg, wo er Karriere machte (Rektor der Universität 1886/87). - Es ist keine Korr. mit Schuchardt überliefert.

7 Franz Rühl (1845-1916), Historiker; vgl. HSA 09811-09813.

8 Adolf Philippi (1843-1918), deutscher Klass. Philologe u. Kunsthistoriker, 1871 in Leipzig habilitiert. Er wurde in Osterholz-Scharmbeck geboren.

9 Ernst Windisch (1844-1918), Keltist, seit 1871 a. o. Professor in Leipzig, bereits 1872 Abgang nach Heidelberg, 1875 Straßburg. - Vgl. HSA 12806-12832.

10 August Leskien (1840-1916), Slavist, verh. seit dem 15. April 1871 mit Marie Elisabeth Judeich. Ihre Mutter Marie Pauline Judeich war eine Tochter von Heinrich und Therese Pauline Brockhaus.

11 Franz Rühl (1845-1916), Historiker; vgl. HSA 09811-09813.

12 Wenn Knapp wirklich aus dem Gedächtnis zitiert, spielt ihm dieses einen Streich, da er „vita“ mit „vista“ verwechselt. Möglich aber auch, dass er eine Ausg. benutzt, die tatsächlich „vita“ bietet.

13 Dante, La Divina Commedia, Purg. XXIII, 1-3 (das „Vidi“ in Z. 4 steht nicht im Original). Dt. Übers. Streckfuß: „Indeß ins Laubwerk meine Blicke drangen, / So scharf und spähend, wie sie Einer spannt, / der seine Zeit verliert mit Vogelfangen“.

14 Drastisch wäre das – jedenfalls nach heutigem Sprachgebrauch – nur, wenn man zu „uccellino“ das Vulgärwort „vögeln“ assoziierte!

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05671)