Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (29-00640)

von Adolf Bauer

an Hugo Schuchardt

Wien

21. 11. 1918

language Deutsch

Zitiervorschlag: Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (29-00640). Wien, 21. 11. 1918. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8192, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8192.


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Wien 21. Nov. 1918

Lieber Freund!

Herzlichen Dank für Deine Besprechung des mir aus Gesprächen mit Dir nicht aber von Angesicht bekannten Singer,1 was ich Dir als Gegengabe schicke ist zwar kürzlich erschienen, aber schon vor Jahresfrist geschrieben gewesen.2

Wir hören durch Löwi direkt und indirekt ab und zu von Deinem Befinden. Gestern war auch in der Akademie von Dir die Rede: Ettmayer hat ein Ms. über die Grödener Mundart eingereicht,3 das Meyer-Lübke gesendet werden sollte, was aber die Post für jetzt und längere Zeit verweigerte, der Präsident konstatierte mit Bedauern, daß er es Dir nicht schicken könne, und so werden Kretschmer4 und Hauler5 ein Notgutachen liefern.

Die Haltung der Akademiker bei der Beratung nach dem Eintritt des Umsturzes über die zu ergreifenden Maßnahmen, war wenig würdevoll: nach einer 1 stündigen Debatte darüber, ob der Name künftig „deutsch-österreichische“ Akademie oder Akademie schlechtweg lauten soll, bin ich, was sonst meinen Gewohnheiten widerspricht, aus dem Lokal gegangen.

Aber lassen wir die Politik mit all ihren Folgeerscheinungen, die ebenso traurig stimmt wie der verlorene Krieg.

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Ich schreibe Dir lieber, wie wir die letzten Monate verlebt haben. Die gute Wirkung des Aufenthaltes in Mondsee war heuer durch den namenlos regnerischen und feuchten Sommer beeinträchtigt. Immerhin habe ich infolge der ausgiebigen Milchnahrung 5 kg zugenommen. Fleisch gab es heuer auch dort nur 1-2mal die Woche; hier haben wir seit Anfang Oktober vielleicht 3-4mal Fleisch bekommen.

Am 3. Oktober sind wir hieher zurückgekommen, wo mein Schlaf sich sofort ganz beträchtlich besserte; für 14. Oktober hatte ich den Beginn der Vorlesungen angesagt, mußte aber absagen, weil mich die jetzt wieder Grippe getaufte Influenza faßte und mit der lieblichen Combination einer Lungenentzündung und eines sehr heftigen und wochenlang dauernden Durchfalles erst im Bett und dann im Hause festhielt, so daß ich erst in dieser Woche mit den Vorlesungen beginnen konnte.

Das Sprechen geht ganz gut und ich meine, daß gegen früher kein Unterschied besteht, auch fange ich jetzt an wieder mit Appetit zu essen, und auch die Cigarette schmeckt wieder, aber das Gehwerk ist sehr verlangsamt und Stiegensteigen macht mich atemlos.

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In der ersten Zeit meines Krankseins drückte mich auch die Ungewißheit über das Schicksal der Söhne, die endlich, nachdem wir lange ohne Nachricht gewesen waren, Willi aus Bukarest und Robi aus Belgrad innerhalb weniger Tage vor etwas mehr als einer Woche heimkehrten. Nun sind sie beide bei uns und es entsteht die Sorge für die Berufswahl, die dadurch erschwert wird, weil alles überfüllt ist. Willi hatte halb und halb vor 4 Jahren Aussicht Aufnahme im archäol. Institut zu finden. Dort wird alles reduziert und diese Aussicht ist dahin. Seine Erkundigungen um eine Supplementstelle waren bisher auch gänzlich negativ. Er selbst hat durch seine Tätigkeit in den letzten 1 ½ Jahren in Sofia, die wirklich sehr interessant war, Geschmack und Neigung für europäische (??) Politik gewonnen. Jetzt darin tätig zu sein, kann man ihm mit gutem Gewissen auch nicht zureden.

Bei Robi, der nur 6 Klassen und lediglich eine militärisch giltige Matura hat, ist die Sache noch schwieriger; er redet von Landwirtschaft.

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Mela und Hilla, die mit den Buben schönstens grüßen, geht es gut, Hilla in ihrer Bibliothek ist das einzige Familienmitglied das verdient, außer mir, der sich seine alten Tage etwas anders gedacht hat. Diese Unsicherheit, das ist mein Anteil an der Kindersorge, die Sorge für die Zukunft der Meinen, jetzt gesteigert durch meine erschütterte Gesundheit. Ich will immer aufrecht tragen; so viele andere sind noch weit härter getroffen.

Mit herzlichen Grüßen wie immer

Dein getreuer

Adolf Bauer


1 In der Datenbank des HSA findet sich keine Singer-Rezension; möglicherweise handelt es sich um eine Besprechung von Samuel Singer, Arabische und europäische Poesie im Mittelalter (Abh. d. Preuß. Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Kl. 1918, 13, 29 S.).

2 Bauer, Die Herkunft der Bastarnen, Wien: Hölder in Komm., 1918.

3 Ettmayer, Vorläufiger Bericht über Phonogramm-Aufnahmen der Grödner Mundart, Wien: Hölder, 1920.

4 Paul Kretschmer (1866-1956), deutsch-österr. allg. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 05824-05832.

5 Edmund Hauler (1859-1941), Klass. Philologe in Wien.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00640)