Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (21-00632)

von Adolf Bauer

an Hugo Schuchardt

Wien

24. 10. 1917

language Deutsch

Zitiervorschlag: Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (21-00632). Wien, 24. 10. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8184, abgerufen am 26. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8184.


|1|

Wien 24.X.17

Lieber Freund!

Daß man Deine Bemerkung S. 520 Anm. 1 so misverstehen kann,1 wie dies E.2 getan hat, ist mir ganz unverständlich; ich erinnere mich ganz gut, daß ich sie beim ersten Lesen ganz ebenso verstanden habe wie jetzt nach wiederholtem: als Ablehnung chauvinistischer Tendenzen Salvionis3 und Rignanos.4 Ich will heute mittags in der Akademie mit Kretschmer5 über den Fall sprechen und Dir dann berichten. Einstweilen eine Reminiszenz, die mir sogleich beim Lesen Deines Bfes kam und die Dir vielleicht auch einen Beitrag zum Beurteilen der Sonderbarkeiten E.s liefert, wie ihn der Vorgang selbst mir geliefert hat.

Im Juli hatten wir eine bis nach 9h währende Facultätssitzung, in der über die Wiederbesetzung der Jodl’schen Lehrkanzel6 verhandelt wurde. In der sehr großen Kommission waren die Fachprofessoren Stöhr7 und Höfler8 mit L. v. Schröder9 in der Minderheit geblieben; die Majorität bildeten Reich10 und die übrigen sehr zahlreichen nichtphilosophischen Mitglieder. Jene hatten einen auch mir unmöglich scheinenden Vorschlag erstattet, in dem u. A. auch der Grazer Privatdozent Mal[l]y11 vorkam, diese hatten Spranger 12 in Leipzig und Rickert13 und noch einen dritten Reichsdeutschen vorgeschlagen. Die Debatte war lebhaft; Stöhr und Höfler bekamen besonders von Brückner14 solche Dinge zu hören, wie ich sie in einer Fakultätssitzung noch nicht vernommen habe. Da stand, als es schon recht spät war, Dvoržak [sic]15 sehr erregt auf und trat – böhmisch-deutsch sprechend – für den Majoritätsantrag ein und pries Spranger als den Vertreter der deutschen Weltanschauung der ersten Dezennien des 20. Jhrhs., Rickert als den Schöpfer der

|2|

deutschen Weltanschauung der dem Kriege folgenden Jahrzehnte des 20. Jhdts. Nach ihm erhob sich nicht minder erregt E. und erklärte, er halte die Gesinnung von Philosophen, die Vertreter von Weltanschauungen seien, überhaupt nicht für wünschenswert, sondern er verlange, daß Kandidaten namhaft gemacht würden, die als Philosophen exakt arbeiten. Kein Mensch hat damals gewußt, was er damit sagen wollte, ob er für den Vorschlag der Philosophen eingetreten sei oder nicht; ich hatte aber den Eindruck, daß er sich nach diesem Diktum mit dem Gefühl eine große und wichtige Tat vollführt zu haben wieder niedersetzte.* (* Luick16 erklärte mir dies nach E’s eigener Interpretation später [Nachmittag] als eine von dem Meinungsführer für den Meister gebrochene Lanze). Ich hatte also damals auch einen etwas größenwahnsinnigen Eindruck von dem doch noch sehr jungen Manne, den ich auch jetzt seiner Korrespondenz mit Dir entnehme.17 Wie weit er etwa durch Zugehörigkeit zu einem hiesigen politischen extremen Verein in nationalen Dingen aus dem Gleichgewicht gekommen ist, weiß ich nicht; über diesen Punkt hoffe ich aber vielleicht durch Kretschmer Näheres zu erfahren. Hast Du außer diesem – wie ich weiß – noch anderen hiesigen Kollegen Deinen Aufsatz über Sprachverwandtschaft geschickt? Dieses Faktum gäbe den bequemsten Anlaß für mich, auch noch anderen gegenüber die Schriftstellerei E’s. zur Sprache zu bringen. Mit E. selbst habe ich, seit ich hier bin, keine 10 Sätze gesprochen, ich sah ihn nur ein paar mal bei v. Kraus18 was jetzt auch nicht mehr der Fall sein wird.

Ist nicht alles über Salvioni u. s. w. von E. gesagte nur Scheingefecht und der Widerspruch eigentlich durch Deine Bemerkung über Meyer-Lübcke [sic!] in der ersten Hälfte der Anm. auf S. 520 hervorgerufen?

25.X.17 Ich fahre in meinem Bericht damit fort, daß mir Luick die oben zuletzt ausgesprochene Vermuthung als nach seiner An-

|3|

sicht unzutreffend bezeichnet hat.

In der Akademie habe ich gestern zunächst Kretschmer den Sachverhalt dargelegt, der mich sogleich an die Rede Es. in der Jodlangelegenheit als Sonderbarkeit erinnerte, aber auch an eine andere Fakultätsgeschichte erinnerte, die mir entfallen war. E. hatte die Einsetzung einer Kommission wegen Besetzung des rumänischen Lektorates verlangt, dies geschah und er erschien dann in der Kommissionssitzung nicht; da diese in den letzten Tagen des Semersters stattfinden sollte, konnte die Sache nicht mehr verhandelt werden und der Dekan erteilte E. wegen seines Ausbleibens in der Kommission in der letzten Sitzung einen Rüffel. Die Art wie er sich zu rechtfertigen suchte war sehr sonderbar: er habe vor der Kommissionssitzung eine freie Stunde gehabt, habe sich ein Mittagsblatt gekauft und sich in die Anlagen bei der Univ. gesetzt und, da er sehr abgespannt war, dort sitzend die ganze Sache vergessen und entschuldige sich dafür. Als wir dies besprachen, kam Dopsch19 dazu, der in seiner lebhaften Art sagte: mit E. werden wir nächstens etwas erleben, der hat im Sommer in Innsbruck einen Passanten ganz grundlos auf der Straße zur Rede gestellt und mußte sich dann deh- und wehmütig entschuldigen. Much20, der bei dabei stand, machte dann ein sehr ernstes Gesicht und sagte ihm seien aus Studentenkreisen Bemerkungen bekannt gewesen, daß man E. nicht für ganz zurechnungsfähig halte auf Grund seiner Äußerungen und er habe sich bisher bemüht, solchen Ansichten entgegenzutreten. Dann beteiligte sich Luick auch an dem Gespräch und betonte daß E. mit ihm über Deine Bemerkung gesprochen habe und daß er (Luick) sich vergeblich be-

|4|

müht habe E. klar zu machen, daß Du gegen und nicht für Salvioni Dich ausgesprochen hättest und daß Du S. nur die Anwendung wissenschaftl. Mittel zubilligst, während E. deren wissenschaftlichen Wert ebenfalls bestreite. Alle fanden seine Zuschriften an Dich unerhört und brachten deren Ton mit diesen anderen befremdenden Erscheinungen in Zusammenhang. Ich habe dann, nach der Sitzung nochmals Luick auf die Sache angeredet, der meinte, der Grund sei bei E. im letzten Ende wohl der Umstand, daß Du ihn S. 520 nicht zitiert hast; er sei sehr eitel, seit der Grazer Besetzung21 nicht gut auf Dich zu sprechen gewesen und so habe diese Kleinigkeit bei ihm, der seine Sachen öfter nicht ruhig durchdenke, sondern sehr sprunghaft sei, solche zu misbilligende Äußerungen hervorgerufen. Es sei sehr unangenehm, daß grade jetzt solche Dinge von ihm bekannt würden, wo er den Vorschlag für Ph. A. Becker22 zu erstatten habe.

Hoffentlich tragen diese Nachrichten dazu bei, Dir weiterhin die nötige Ruhe zu erhalten; der allseitigen Misbilligung dieser Äußerungen E.s kannst Du Dich versichert halten.

Ich beschränke mich auf diese Academica, über das Familiäre hat Dir Mela gestern geschrieben. Hoffentlich bekommen wir bald so wie Du kürzlich von Robi eine befriedigende Karte von unserm; jetzt haben wir seit ein paar Tagen gar keine Nachricht, was er uns ja allerdings als bevorstehend verkündigte.

Mit herzlichen Grüßen wie immer

Dein

Adolf Bauer


1 Schuchardt, „Sprachverwandtschaft“, Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 37, 1917, 518-529.

2 Karl von Ettmayer (1874-1938), seit 1915 als Nachfolger Wilhelm Meyer-Lübkes in Wien. Vgl. die Einzelheiten bei: Goebl, Hans. 2016. „Die Korrespondenz zwischen Karl von Ettmayer und Hugo Schuchardt“. In Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv. Webedition verfügbar unter: https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1459. Hier ist der folgende Auszug aus HSA 28-02816 (20.10.1917) aufschlussreich: „Aus der Art, wie Sie Salvioni und dann wieder mir gegenüber die Worte setzen, spricht soviel neurasthenisches Unbehagen mit allen seinen bekannten Begleiterscheinungen dass ich es für meine Pflicht halte Sie zu fragen, ob Sie Ihre Arbeit, die wie Sie selbst zugeben z. T. auf unvollständigen Literaturkenntnissen beruht, im Interesse der deutschen Wissenschaft wie in eigenem nicht besser zurückzögen. Im jetzigen Augenblicke halte ich aber Ihre Ausführungen über Sprachgrenzen für unheilvoll und ich könnte, falls Sie Ihre Arbeit aufrechten [sic] halten wollten, nur die Worte Dantes wiederholen: Issa vegg’io lo nodo che mi distolse … Verzeihen Sie mir diese ernsten Worte in ernster Stunde ich kann nicht anders“ (die in der Wiedergabe der Goebl’schen Transkription nachgetragene Interpunktion wurde hier fortgelassen!).

3 Carlo Salvioni (1858-1920), italophiler Schweizer Romanist, Professor in Mailand und Pavia; vgl. HSA 09912-00930.

4 Eugenio Rignano (1870-1930), ital. Philosoph. Zu seiner Einstellung gegenüber Deutschland nach Kriegsausbruch vgl. https://media.accademiaxl.it/pubblicazioni/Matematica/cap3_2.htm.

5 Paul Kretschmer (1866-1956), deutsch-österr. Linguist, seit 1899 Wiener Ordinarius der Allgemeinen u. vergleichenden Sprachwissenschaft; vgl. HSA 05824-05832.

6 Friedrich Jodl (1849-1914), deutsch-österr. Philosoph und Psychologe; vgl. HSA 05137.

7 Adolf Stöhr (1855-1921), österr. Philosoph und Psychologe in Wien.

8 Alois Höfler (1853-1922), österr. Philosoph und Pädagoge, seit 1907 in Wien.

9 Leopold von Schroeder (1851-1921), deutsch-baltischer / österr. Orientalist, seit 1899 in Wien; vgl. HSA 10205-10230.

10 Emil Reich (1864-1940), österr. Literaturwissenschaftler, von 1904 bis 1933 außerordentlicher Professor für Ästhetik in Wien.

11 Ernst Mally (1879-1944), österr. Philosoph, Schüler von Alexius Meinung, habilitiert in Graz 1913 mit einer Schrift über Gegenstandstheoretische Grundlagen der Logik und Logistik.

12 Eduard Spranger (1882-1963), deutscher Philosoph, Pädagoge und Psychologe.

13 Heinrich Rickert (1863-1936), deutscher Philosoph.

14 Eduard Brückner (1862-1927), deutsch-österr. Geograph und Glaziologe, 1917/18 Dekan der Phil. Fak. Wien.

15 Max Dvořák (1874-1921), österr.-böhm. Kunsthistoriker, ab 1909 Ordinarius für Kunstgeschichte in Wien.

16 Karl Luick (1865-1935), österr. Anglist in Graz und Wien; vgl. HSA 06672-06709.

17 Vgl. Goebl, Hans. 2016. „Die Korrespondenz zwischen Karl von Ettmayer und Hugo Schuchardt“. In Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv. Webedition verfügbar unter: https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1459.

18 Carl von Kraus (1868-1952), österr.-deutscher Altgermanist in Wien, Prag und München.

19 Alfons Dopsch (1868-193), österr. Historiker.

20 Rudolf Much (1862-1936), österr. Germanist und Skandinavist, Altphilologe und Religionswissenschaftler, seit 1906 Wiener Ordinarius.

21 Ettmayer hatte 1899 bei Schuchardt promoviert, sich dann aber bei Meyer-Lübke in Wien habilitiert, lehrte danach als Professor in Fribourg (ab 1911) und Innsbruck (ab 1915), bis er im gleichen Jahr Nachfolger Meyer-Lübkes in Wien wurde. Möglicherweise hatte er sich 1911 Hoffnung auf die Nachfolge Cornus in Graz gemacht, die jedoch an den international bekannteren Adolf Zauner ging.

22 Gemeint ist mit „Vorschlag“ die Nachfolge Beckers, der von 1905 bis 1917 neben Meyer-Lübke in Wien wirkte und dann nach Leipzig ging. W. Th. Elwert gibt in seinem NDB-Beitrag über Walther Küchler (1877-1953) irrtümlich an, dieser sei 1922 als Nachfolger Ettmayers nach Wien berufen worden. Ettmayer (Jg. 1874) war zu diesem Zeitpunkt erst 48 Jahre alt und hatte bei seinem Tod 1938 noch nicht das Emeritierungsalter erreicht. Es ist daher wahrscheinlich, daß Küchler Beckers Nachfolger wurde und der Lehrstuhl, kriegsbedingt, so lange vakant blieb.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00632)