Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (17-00628)

von Adolf Bauer

an Hugo Schuchardt

Wien

14. 03. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Hofbibliothek Universität Wien Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Universität)

Zitiervorschlag: Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (17-00628). Wien, 14. 03. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8180, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8180.


|1|

Wien, 14.III.17

Lieber Freund!

Gestern wäre ich noch in Verlegenheit gewesen Deinen inhaltreichen Brief mit Gleichem zu erwidern, da von der georgisch-mingrelisch etz. Kommission in der Akademie, seit dem ich Dir darüber schrieb, nichts mehr zu vernehmen war* (* Den Namen des Dr Hestermann1 höre ich von Dir zum erstenmal) und Dir mit der Wiedergabe eines Berichtes von Much2 über die Publikationen des Prager Knopf (sic!)-Museums3 doch nicht gedient gewesen wäre, obwohl beschlossen wurde mit diesem durch Übersendung des Anzeigers in Schriftentausch zu treten. Durch den Tod des guten alten Bormann,4 den ich mit meiner Frau noch 14 Tage vorher besucht hatte, ist insofern Leben in die Bude gekommen, als jetzt die Stelle eines ord. Mtglds. zur Besetzung kommt und daher die Wahlagitation schon eingesetzt hat, mangels jeder anderen ernst zu nehmenden wissenschaftlichen Betätigung, obwohl Redlich5 mit altkastilischer Grandezza den Sitzungen präsidiert, in denen die größten Nichtigkeiten, z. B. daß die Aktuare der Kanzlei den Titel Offiziale erhalten sollen, erörtert werden. Zu solchen Gegenständen melden sich „Unsterbliche“ zu Wort und über solchen Quark werden Debatten geführt.

Im Wirtshaus – nach der gestrigen Fakultätssitzung, in der Interessanteres und Wichtigeres verhandelt wurde und das Attentat des Armee-Ober-Kommandos auf die Universität durch ein glänzendes Referat Brückners6 zurück-

|2|

gewiesen worden ist – wie ich höre, bedankt man sich auch in Graz für die angebotenen Vorlesungen und obligatorischen Prüfungen an der Universität durch Stabsoffiziere über Heereswesen, Militärjustiz u. dgl. – im Wirtshaus also hörte ich einige Personalien, die Dich vielleicht interessieren werden. Übersberger,7 der sich jetzt mit 15,000 Kr. Personalzulage trotz der Teuerung sehr üppig nähren kann, erzählte, daß nächster Tage die beiden Direktoren der Tschechischen Nationalbank wegen Hochverrat in Anklagezustand versetzt werden; das braucht allerdings nicht wahr zu sein, denn Ü. bringt aus dem Minist. des Äußeren oder aus der Kabinettskanzlei meist Nachrichten, die sich dann als unrichtig erweisen; aber Anzeichen schlechten Gewissens bei dieser Živnostenská-Banka,8 an deren Bureaus ich täglich vorbeigehe, sind sogar meiner Harmlosigkeit nicht entgangen: bisher waren alle Aufschriften und Plakate tschechisch und französisch, in jüngster Zeit anläßlich der Konvertierungen der ersten und zweiten Kriegsanleihe tauchten zum erstenmale solche in deutscher Sprache auf.

Besser begründet scheint mir die von anderer Seite im Kaffeehaus zur allgemeinen Unterhaltung beigesteuerte Sensation, daß Karabacek als Direktor der Hofbibliothek9 bereits pensioniert sei; man wußte auch, daß Musil10 es gewesen sei, via Parma11 bei der neuen Majestät sehr einflußreich, der ihn stürzte – tragisch, wenn es wahr ist, da Kar. sich bis zum Überdruß anderer Leute allezeit für

|3|

seinen Musil eingesetzt und diesen herausgestrichen hat. Das Hauptinteresse wendet sich aber der Frage zu, wer Kar.‘s Nachfolger wird. Die einen sagen: Musil, andere wetten auf Pastor,12 auch Ottenthal13 und Redlich14 werden genannt; hoffentlich wird’s einer, der die Bibliothek wieder benutzbar macht.15

Von Meyer-Lübcke16 wurden in der gestrigen Sitzung Porträtplaketten in Bronze und Altsilber herumgereicht, die man kaufen konnte – ich habe nicht gesehen, daß sich jemand auf dem beiliegenden Bogen als Abnehmer eingezeichnet hätte. Von Porträtähnlichkeit war keine Spur. Deine mir schon aus mündlicher Unterhaltung bekannte Stellung in den mit ihm und Ettmayers Grazer Berufung zusammenhängenden Fragen werde ich, wann und wo sich dazu Gelegenheit ergibt, zur Kenntnis bringen.17

Kretschmer18 treffe ich heute in der Akademie; er ist jetzt, glaube ich mit dem Lydischen stark beschäftigt, also von der Hethiterfrage nicht allzu abseits, so daß er darauf hin angeredet werden kann. Als ich ihn das letztemal traf, war er ganz erfüllt von einem Besuch der Frau Kirste,19 die ihm ihren hier in der Nähe Militärdienst leistenden Sohn für Sonntagnachmittagbesuche empfahl und konnte sich gar nicht fassen, als ich ihm sagte, ich hätte in 30 Jahren in Graz mit Kirste u. Frau keine 30 Worte gewechselt.

|4|

Nun auch etwas von uns. Die beiden Söhne haben Aussicht den März über noch in ihren Spitälern zu bleiben; Willi betreibt mit einem türkischen Major, der jetzt in Neuhaus in Pflege ist, dessen Muttersprache, Robi den Verkehr mit seiner Cousine und entdeckt immer neue Wege, die ihn Nachmittag[s] nach Weidling a/Bache führen, wo sie haust.

Zum nächsten Samstag-jour haben wir Magnifizenz Reisch20 und Gattin gebeten, da eine Jause bei ihnen infolge Saumseligkeit der Post gescheitert ist und die beiden Ehepaare sich bisher nur einmal bei Dopsch21 jausenmäßig getroffen haben.

Auf Umwegen habe ich von den großen Kämpfen gehört, die um die Wiederbesetzung der Schenkl’schen22 Lehrkanzel entbrannt sind und noch nicht zum Abschluß gebracht werden konnten. Murko23 prophezeie ich, nach dem was er mir selbst hier auf der Durchreise von Leipzig erzählte und was ich von seinen Freunden hier hörte, das Schicksal Boltzmann-Haberlandt24 und einen Ausgang wie bei Boltzmann: entweder geht er überhaupt nicht oder er kommt bald wieder, denn Haberlandt hat die Akklimatisationsschmerzen überhaupt wie ein kürzlich eingetroffener Brief mich belehrt. Von Löwi25 habe ich seit ich hier bin, nichts gesehen und gehört, grüße ihn, wenn er sich bei Dir sehen läßt, was hoffentlich nicht zu selten geschieht.

Die Meinen vereinigen ihre Grüße mit denen

Deines

AdolfB


1 Ferdinand Hestermann (1878-1959), deutscher Ethnologe, promovierte 1916 in Wien in Völkerkunde; vgl. HSA 04696-04703.

2 Rudolf Much (1862-1936), österr. Germanist, seit 1906 Wiener Ordinarius für Germanische Sprachgeschichte und Altertumskunde sowie Skandinavistik.

3 Berichte aus dem Knopf-Museum Heinrich Waldes Prag-Wrschowitz: Sammlung von Kleiderverschlüssen aller Arten und Zeiten, Prag-Wrschowitz : Selbstverl., 1916-1919, 1916 - 1919 [Erscheinungsverlauf: 1.1916 - 4.1919].

4 Eugen Ludwig Bormann (1842-1917), deutsch-österr. Althistoriker und Epigraphiker; vgl. HSA 01226-01229.

5 Oswald Redlich (1858-1944), österr. Historiker; vgl. HSA 09172-09174.

6 Eduard Brückner (1862-1927), deutsch-österr. Geograph und Glaziologe, 1917/18 Dekan der Phil. Fak. Wien.

7 Hans Übersberger (1877-1952), österr.-deutscher Osteuropahistoriker, 1915 o. Prof. für osteuropäische Geschichte.

8 Bauer schreibt „Zivnosta-Banka“; es handelt sich um ein 1868 gegründetes tschechisches Kreditinstitut mit Sitz in Prag.

9 Joseph Maria von Karabacek (1845-1918), österr. Orientalist, seit 1899 Direktor der Wiener Hofbibliothek; vgl. HSA 05270-05292.

10 Alois Musil (1868-1944), österr.-tschech. Orientalist.

11 Kaiserin Zita (1892-1989), geb. von Bourbon-Parma, seit 1911 die Gemahlin des späteren Kaiser Karl II.

12 Ludwig Frhr. von Pastor (1854-1928), österr. Kirchenhistoriker („Geschichtsschreiber der Päpste“).

13 Emil von Ottenthal (1855-1931), österr. Historiker; vgl. HSA 08427.

14 Oswald Redlich (1858-1944), österr. Historiker; vgl. HSA 09172-09174.

15 Josef Donabaum (1861-1936), Historiker, wurde zunächst (1917-1922) Titulargeneraldirektor; ihm folgte 1923 sein Stellvertreter Josef Bick (1880-1952), Klass. Philologe, ab 1926 mit dem Titel Generaldirektor.

16 Wilhelm Meyer-Lübke (1861-1936), Schweizer Romanist, der in Deutschland und Österreich als Professor wirkte und 1915 einen Ruf nach Bonn auf den Lehrstuhl, den einst Friedrich Diez begkleidet hatte, annahm; vgl. HSA 07223-07293.

17 Vgl. Hans Goebl, „Die Korrespondenz zwischen Karl von Ettmayer und Hugo Schuchardt“. In: Bernhard Hurch (Hg.) (2007-). Hugo Schuchardt Archiv. Webedition verfügbar unter: https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.1459.

18 Paul Kretschmer (1866-1956), deutsch-österr. allg. Sprachwissenschaftler; vgl. HSA 05824-05832.

19 Frau des Indologen Johann Kirste (1851-1920).

20 Emil Reisch (1863-1933), österr. Klass. Archäologe, 1916/17 Rektor der Wiener Universität; verh. mit Melitta Müller (1880-1965), Tochter des Oberlandesregierungsrats Guido Müller u. der Fanny Lechner.

21 Alfons Dopsch (1868-1953), österr. Historiker.

22 Heinrich Schenkl (1859-1919), österr. klass. Philologe; er lehrte von 1892 bis 1917 in Graz, wechselte dann nach Wien, wo er nach kurzer Tätigkeit verstarb; vgl. HSA 10ß21-10029. – Die Liste der Klass. Philologen an der Universität Graz nennt keinen Nachfolger!

23 Mathias Murko (1861-1952), slow.-österr. Slawist, o. Prof. in Graz (1902-17), Leipzig (1917-20) und Prag (1920-31).

24 Ludwig Boltzmann (1844-1906), österr. Physiker und Philosoph; seine Rufannahme nach Leipzig 1900 endete zwei Jahre später in einem Fiasko, so daß er nach Wien zurückkehrte, wo sich seine psychischen Probleme aber noch weiter verstärkten. – Gottlieb Haberlandt (1854-1945) war Ethnologe an der TH Graz und nahm 1910 einen Ruf an die Universität Berlin an.

25 Otto Loewi (1873-1961), deutscher Pharmakologe, 1909 Ordinarius in Graz; vgl. HSA 06599-06605.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 00628)