Hugo Schuchardt Archiv

[Postkarte WIEN, 23-1-17]

Wien 23. Jänner 1917.

L. F.

In den Akademiesitzungen ist Reinisch¹ bisher noch nie gewesen, aber ich habe Kenntnis davon und zwar aus jüngster Zeit, daß es ihm gut geht: Junker² hat ihn zu Weihnachten in Lankowitz³ besucht und mir Grüße bestellt. Über die kaukasischen Lieder habe ich nichts mehr gehört seit meiner letzten Nachricht,⁴ obwohl ich bisher keine Sitzung ver-

säumte; es scheinen Lieder ohne Worte daraus geworden zu sein. Was die Wiederbelebung Seemüllers⁵ anlangt, so war ich bis vor kurzem auch der Ansicht, daß sie einer Abneigung gegen Z.⁶ entsprungen sei; nach Mittheilungen, die mir vor wenig Tagen zukamen, muß ich aber annehmen, daß dies mindestens bei den ersten Anregern des Projektes nicht der Fall war; daran halte ich aber fest, daß der Plan deshalb auf so fruchtbaren Boden fiel, weil bei einigen oder einem Z. dem Fache nach Nahestehenden seine Berufung nicht gewünscht wird.

Der Wetterbericht belehrt uns, daß Graz doch erheblich südlicher ist als Wien: -4 gegen -12° hier; auch sonst weht der Wind manchmal schärfer, es ist in vieler Hinsicht größere Laxheit, in mancher aber auch mehr Entschiedenheit zu beobachten: davon konnte ich mich in der Kommissionssitzung wegen des Extraordinariates Geier⁷ überzeugen; wo die Forderung durchgesetzt wurde, daß er in dem Bericht als nationaler Jude gekennzeichnet werden müsse, und in einer Sitzung der Prüfungskommission, in der um eines vernünftigen Prüfungsmodus willen die unvernünftigen Bestimmungen der Prüfungsvorschrift glatt ignoriert wurden.

Mit herzlichen Grüßen von uns allen

Dein
A. Bauer