Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (01-00612)
von Adolf Bauer
an Hugo Schuchardt
29. 06. 1894
Deutsch
Schlagwörter: Universität Graz Italienisch
Deutsch
Zitiervorschlag: Adolf Bauer an Hugo Schuchardt (01-00612). Graz, 29. 06. 1894. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8164, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8164.
Graz 29. Juni 1894
Lieber Freund,
Du hattest ganz recht gehabt mit der Darlegung unter No 1 Deines letzten Briefes, für den ich Dir bestens danke, die Discussion auf das Thema zurückzuleiten, aus dessen verschiedener Auffassung unsere verschiedene Beurtheilung des Falles eigentlich entspringt; auf das Verhältnis, das der Einzelne zu einer Körperschaft hat,1 deren Mitglied er ist; ich vermeide dabei den Ausdruck Facultät, da es meiner Ansicht nach ganz gleichgiltig ist, ob diese juristische Person der Gemeinderath von Graz oder das Ministerium S. Majestät, ob es ein Verein ist, in dem ich mich durch freiwilligen Eintritt befinde oder ob ich durch eine Ernennung Mitglied einer solchen Körperschaft geworden bin, ob deren Mitglieder ganz oder theilweise inferiore Individuen sind oder nicht.
Du sagst nun, daß Du nur zu den Individuen in einem moralischen Verhältnis stehst und daß Deinem Verhältnis zum Ganzen, das Kennzeichen der Reciprocität mangle, das für die Beziehungen zwischen Individuen charakteristisch sei. Ich stelle das in Abrede; ich behaupte, daß das einzelne Mitglied ebenso der Gesamtheit gegenüber moralische Verpflichtungen hat, wie diese dem Einzelnen gegenüber. Ich behaupte, daß
|2|die Beobachtung dieser moralischen Pflichten ebenso nothwendig sind [sic], wie die aus dem Zusammenleben mit einzelnen Individuen entspringenden. Du läßt nur die letzteren gelten und fühlst Dich der ersteren ledig, weil Du die Körperschaft mit ihren Mitgliedern identifizierst.
Ich sage, die Gemeinschaft hat auch Pflichten gegen ihre Mitglieder; sie darf z. B. anständiger Weise nicht in Abwesenheit eines Mitgliedes über dieses abträgliche Beschlüsse fassen, ja nicht einmal abträgliche Äußerungen thun, wenn der Betreffende nicht da ist, und sich nicht vertheidigen kann, wir wählen z. B. immer den Fachmann oder einen Antragsteller in die Commission, auch wenn wir nicht seiner Ansicht sind, weil ihm das Recht seine Meinung vor der Commission und in der Fakultät zu äußern nicht geschmälert werden darf. Letzteres gehört sogar zu den geschriebenen Rechten des Einzelnen und ist daher eine geschriebene Verpflichtung der Gesamtheit gegenüber dem Einzelnen, über deren Nichtbeachtung ihm das Beschwerderecht zusteht.
Diese Reciprocität zwischen der Vereinigung und ihren Mitgliedern ist aber auch unbedingt nothwendig, da sonst der Kampf Aller gegen Alle mit seinen höchst nachtheiligen und unmoralischen Begleiterscheinungen an Stelle der gesellschaftlichen Ordnung treten würde.
Ich wähle aus Universitätsverhältnissen ein anderes Beispiel. Nehmen
|3|wir den Fall ein theologischer Rektor würde die Carolina2 aufgefordert oder ihrem Wunsche nachgebend zugelassen haben, daß sie bei der Inauguration in der Corona der farbentragenden Verbindungen mit Schlägern und Cerevis3 stehe. Darauf erklären die Vertreter der Corps und Burschenschaften, daß sie zu ihrem Bedauern nicht in der Lage seien, an der Inaugrationsfeierlichkeit theilzunehmen. Ein Mitglied einer dieser Verbindungen das gesprächsweise einigen seiner Commilitonen und dem Senior gegenüber diesen Beschluß misbilligt hat, übergibt nun einem Herrn, von dem es weiß, daß er gelegentlich mit dem Rektor verkehrt eine Auseinandersetzung dahin gehend, daß der Rektor die Pflicht habe, allen akad. Verbindungen gleiches Recht zu theil werden zu lassen u. s. w. zum beliebigen Gebrauch. Was glaubst Du wohl, was die Verbindung thun würde? Und glaubst Du nicht, daß sie sich zu Schritten dem Einzelnen gegenüber deshalb für berechtigt hielte, weil ihre Existenz zum größtentheil auf einer wechselseitigen Verpflichtung zwischen der Gemeinschaft und dem Einzelnen beruht? Und so könnte man analoge Beispiele ausdenken vom Touristenverein oder einer Feuerwehr bis hinauf zum Verhältnis des Ministerrathes und seiner Mitglieder zum regierenden Fürsten.
Auf alle diese Fälle kann man das
|4|Bild von der Maschine anwenden und doch trifft es in keinem Falle wirklich zu, weil zwar leider manche Körperschaften wie die Maschinen sind aber an sich, weil sie eben als Körperschaften Rechte haben, doch keine Maschinen sind. Es hilft aber nichts, die Gemeinschaft läßt sich nicht in ihre Atome auflösen, ob sie nun Senat oder Fakultät heißt, und ich behaupte, daß der Einzelne, der ohne diese Gemeinschaften überhaupt nicht existieren kann, mit ihrer Existenz rechnen und daher auch seine Pflichten gegen sie erfüllen muß.
Ich läugne ja damit nicht, daß ab und zu in der Praxis einmal einer oder mehrere sich souverän über diese Auffassung erheben mögen, ohne dabei zu Schaden zu kommen, aber wenn dies der Fall ist, so danken sie es nur dem zufälligen Umstand, daß nicht Alle so sind, wie sie selber und daß nicht in allen Körperschaften der gleiche Corpsgeist besteht, wie in der studentischen Verbindung oder im Offizierscorps. Ich behaupte ferner, daß im Verkehr des Einzelnen mit der Körperschaft derselbe Comment gilt und gelten muß, wie zwischen den Individuen, und daß die Moral hier wie dort dieselbe ist. Überdies sind die modernen Einrichtungen ohnedies solche, daß jeder seiner Ansicht auf legalem Wege Ausdruck geben kann und in dem besonderen Falle
|5|fehlen nach meiner Meinung alle Voraussetzungen, die den Staatsstreich begreiflich oder gar als eine Wohlthat erscheinen ließen. Du magst das Mythologie oder mit A. E. das „Pigment“ nennen, hinter alle dem stecken doch sehr reale Dinge, und alles dies sind Schöpfungen, die aus dem Bedürfnis hervorgegangen sind, wie dann auch das jeweilige Bedürfnis auf die Fassung unbewußt einwirkt, die wir unseren Anschauungen geben. In unserem Falle vertrete ich das Interesse der Gesamtheit, Du verwahrst Dich dagegen, dieser Gesammtheit irgendwie verpflichtet zu sein – indem Du ihr die Existenz streitig machst. Du sprichst von Vertheidigung gegen eine wenn auch freundschaftliche Maßregelgung, wo doch die Erörterung zwischen uns einem von Dir unterstützten Angriff – Du hast gegen meinen noch nicht gefaßten Beschluß eine Abtheilung Kanonen bereit gemacht, und den Andern gestattet, damit gegen uns zu schießen – ihren Ursprung verdankt. Auch ich empfinde es als lästig, daß Du den Eindruck gewinnen könntest, ich spielte mich gehörig als Sittenrichter auf, wenn ich mich zum Verfechter der gesellschaftlichen Moral mache. Aber das Idyll procul facultate muß ich auch persönlich in Abrede stellen, in diesem
|6|Falle handelt es sich um ein bellum, das die allerdings sehr formalistischen Träumer nicht ein justum piumque duellum genannt haben würden, da ihm die ordnungsmäßige Ankündigung durch die Fetialen4 fehlte, ich sage nicht ein bellum contra facultatem das Du als solches beabsichtigt hast, sondern meinetwegen gegen Gottlieb Gustav u Zdenko5 beabsichtigstes bellum, weil Du fälschlich diese drei Kämpen mit der facultas identisch hältst, als ob jeder von ihnen oder sie alle drei einen Beschluß über die Vortragssprache Ives6 hätten fassen können. Ich bin also nicht der Angreifer und Du wehrst Dich auch nicht gegen die Mehrzahl, sondern die Mehrzahl oder die Gesammheit wehrt sich dagegen, daß Du ihren Entschließungen vorgegriffen hast.
Und nun ad. 2. Ich will mich genauer ausdrücken – ich habe es für selbstverständlich gehalten, daß wenn mit der Ernennung Ives und mit seiner Berufung die Voraussetzung verbunden war, er solle italienisch vortragen, dies gesagt werden mußte, denn davon kann ich nicht ablassen, daß man bei uns, wenn nichts gesagt wird, zu erwarten berechtigt ist, der Mann werde in derselben Sprache vortragen, wie alle andern ausnahmslos. Ich gestehe Dir aber gerne zu, daß dies kurzsichtig war, da wir uns
|7|hätten denken können, daß der Protégé des Abgeordneten Campi7 eine nicht nur aus pädagogischen Rücksichten wieder errichtete Lehrkanzel erhalten werde.
Was Du über die Vortheile sagst, die Vorträge über italienische Literatur in ital. Sprache bieten, sehe ich sehr gut ein, nur begreife ich nicht wie man der Grossmuth, die Du von den Deutschen verlangst, Genzen ziehen soll. Italienisch ist in Steiermark nicht die zweite Grundsprache, sondern slovenisch. Historische, durch die Thatsachen längst zur Antiquität gewordene Verhältnisse haben es mit sich gebracht, daß die Italiener ihre juridischen Prüfungen hier durchweg in italienischer Sprache machen können, daß sie ihre Hausarbeit auch wenn Italienisch nicht ihr Fach ist, italienisch schreiben dürfen beim Lehrerexamen, ein Usus erstreckt dies auch auf die Clausur und die mündliche Prüfung. Also nicht einer, sondern viele Professoren müssen nolens volens so großmüthig sein soviel Italienisch zu lernen, damit sie die Herren Candidaten verstehen. Jetzt haben sie auch noch in dem von Dir so gerühmten Anbau im Loggienstile einen italienisch vortragenden Professor. Ich frage nun, wie kann man, wenn man die Billigkeit in diesem Falle gelten läßt, heute oder
|8|morgen, wenn die Slovenen einen gleichen Anbau verlangen sagen „Ja Bauer, das ist etwas anderes, Ihr müßt Deutsch lernen“. Da kommt man auf die Stradner’sche8 Unterscheidung der Sprachen D antes und Voschnjaks9 und wird ungerecht. Der zufällige Umstand, daß hier Slovenen, Serben und Kroaten sind und daher die Wünsche aller nicht auf einen Schlag befriedigt werden können, wird zunächst wenigstens nicht hindern, daß die ersten mit Nachdruck eine slowenische Professur an unserer, der Gerichtssprache wegen slowenische Vorlesungen und Prüfungen an der juridischen Fakultät verlangen werden, und ich sehe nicht ein, wie man ohne Willkür bei Ive Halt machen will. Und sind wir dann nach Deiner Meinung auch noch eine deutsche Universität und ist es etwa für die Slowenen minder traurig, daß sie die von slov. Gymnasien kommen, Vorträge nicht in ihrer Muttersprache hören können als für die Italiener?
Diese Befürchtungen haben bei mir vom ersten Augenblick bestanden und ihrer kann ich nicht los werden. Ive’s Professur ist ihrem Ursprung nach ein Politicum und deshalb kann die Politik in seiner Angelegenheit nicht ignoriert werden, daß die Fakultät ihn vorgeschlagen hat, ist nur ein Beweis, wie wenig die Deutschen in politicis ihren Vortheil verstehen. Damit, l. Freund, hast Du mein Glaubensbekenntnis als ζῷον πολιτικόν und meine Meinung über die praktischen Seiten der Frage.
Ich bin mit herzl. Grüßen wie immer
Dein
Adolf Bauer
1 Wie sich erst im weiteren Text dieses Briefes zeigt, geht es um einen Fakultätskonflikt, der durch die auf Schuchardts Betreiben erfolgte Berufung des Romanisten Antonio Ive (1851-1937) nach Graz entstand, da dieser, mit Schuchardts ausdrücklicher Zustimmung, seine Lehrveranstaltungen auf Italienisch halten wollte und sollte. Dies schien Bauer, der 1895/96 und noch einmal 1903/04 Dekan der Philos. Fakultät und für das Amtsjahr 1910/11 Rektor der Grazer Universität wurde, im Hinblick auf die slowenische Minderheit, die eine Gleichbehandlung aus diesem „Privileg“ Ives hätten ableiten können, höchst problematisch.
2 Hier und im Folgenden werden alle lateinisch geschriebenen Wörter (meist Eigennamen) kursiviert. – Im vorliegenden Fall ist die KÖHV Carolina Graz gemeint, die 1888 gegründet worden war, um das katholische akademische Lager im freisinnigen Graz zu stärken.
3 Kleine, kreisförmige, flache Kopfbedeckung ohne Schirm, die in der Regel am Hinterkopf getragen, in Deutschland meist „Tönnchen“ genannt.
4 „Die Fetialen waren eine Priesterschaft im antiken Rom, die vor allem in früher Zeit für die völkerrechtlichen Außenbeziehungen Roms und deren Zeremonien verantwortlich waren“ (wikipedia).
5 Es handelt sich vermutlich um die Grazer Professoren Gottlieb Haberlandt (1854-1945), Botaniker, Gustav Hanausek (1855-1927), Römisches Recht, Zdenko Hans Skraup (1850-1910), Chemiker.
6 Antonio Ive (1851-1937), von 1893 bis 1922 Schuchardt romanistischer Kollege in Graz. Er war in Rovigno (Rovinj) als Angehöriger der italienischen Minderheit Kroatiens geboren worden und hielt seine Lehrveranstaltungen auf Italienisch. Bauer plädiert hingegen für den grundsätzlich auf Deutsch gehaltenen Unterricht aller akademischen Disziplinen, auch der Fremdsprachen.
7 Alois Edler von Campi, Abgeordneter des Kronlandes Tirol in der 8. Legislaturperiode des Reichsrates (1891-1897). Vgl. dazu den Brief Gurlitts an Schuchardt, HSA 25-04243.
8 Josef Stradner (1852-1907), Grazer Geistlicher und ideenreicher Pädagoge.
9 Josip Vošnjak (1834-1911), slow. Politiker und Schrifsteller.