Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (10-07162)

von Gustav Meyer

an Hugo Schuchardt

Graz

28. 07. 1879

language Deutsch

Schlagwörter: Universität Prag Neue Freie Presse Universität Czernowitz Kelle, Johann von Speidel, Ludwig Gomperz, Louise Gurlitt, Wilhelm Schönbach, Anton Werner, Richard Maria Keller, Otto Canstein, Raban von Grawein, Alexander Gross, Hans Wolf, Michaela (1993) Schuchardt, Hugo (1879) Schuchardt, Hugo (1879)

Zitiervorschlag: Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (10-07162). Graz, 28. 07. 1879. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8040, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8040.


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Graz, 28.7.791

Lieber Schuchardt

Dass Sie an und für sich eine beneidenswerte Existenz führen, ist zweifellos; daß Ihnen dies aber noch viel neidenswerter vorkommen würde, wenn Sie wüßten, wie schrecklich es hier ist, können Sie mir glauben. Ich denke etwa in der zweiten Woche des August daran auf 2 bis 3 Wochen fortzugehen, und zwar zuerst nach München, wo ich als bedeutender Kunstgelehrter die Bilderausstellung2 prüfender Einsicht unterziehen will – ohne Feuilleton! – und dann nach Tegernsee, wo sich Kelles aus Prag aufhalten.3 Sie müssen unterdessen einen zweiten von mir nach Granada gerichteten Brief |2| erhalten haben, der Ihnen meinen Eindruck von Ihrer Wohnung schilderte und zugleich Nachricht von meinen verschiedenen Sturmläufen auf Speidel4 gab. Mir ist sein Benehmen ganz rätselhaft. Nachdem nicht einmal die Bemerkung in meinem letzten Brief, Sie wollten Veränderungen und Zusätze im Mscr. machen, ihn bewogen hat es mir zu senden, glaube ich fast, daß es „in Verstoß“ geraten ist.5 Ist doch mein letztes Feuilleton, das ich Ihnen gleichzeitig unter Xband6 zusende, innerhalb 4 Wochen erschienen. Ich glaube Sie müssen nun die Affaire bis zu Ihrer Rückkehr warten lassen. Ich wundre mich blos wieder, daß grade Ihnen wieder eine solche Geschichte passiren muß. – Tief gekränkt hat es mich, dass die wunderschönen Zeilen in Ihrem Liebesfeuilleton „Gestern liebt ich“ etc. nicht von Ihnen, sondern von Herrn von Lessing übersetzt sind, wie sich neulich heraus stellte.7 Im übrigen habe ich Ihnen die erfreuliche Mittheilung zu machen, daß Frau v. Gomperz8 Sie auf Ihre Villa Pfannberg bei Frohnleiten daneben |3|Gurlitt9 eingeladen hat, der ihr bedauernd die Unmöglichkeit Ihres Erscheinens motiviert hat. Da sehen Sie doch eine Frucht Ihres Wiener Aufenthaltes. Besagter gewiefter Archäologe hat sich gestern zum Anthropologentage nach Laibach begeben,10 von dem ohne Zweifel eine neue Aera in der praehistorischen Forschung datieren wird. Mir ist vor nicht langer Zeit Schmerzliches wiederfahren: es fand an einem heiteren Sommerabend, als ich nichts Böses ahnend bei Kils11 saß, eine allgemeine Verbrüderung statt, so daß ich jetzt mit Schönbach (!), Gurlitt (!!), Werner (!!!) und --- Keller (!!!!)12 auf Du stehe! Ich höre Ihr herzliches Lachen des Hohns! Gegen Sacher-Masochs „Schwarze Punkte“ sollen demnächst „Blaue Flecke“ erscheinen, hoffentlich nicht auf seiner eigenen Haut. Marie Blodig – ich weiß nicht, ob Sie sie gekannt haben13 – ist kürzlich ganz plötzlich an Herzschlag gestorben, für Blaschke14, der Hofrat geworden ist, ist ein Freiherr von Canstein aus Ćernović15 ernannt worden, Grawein16 muss gen Osten ziehen, was ihm ganz passend sein wird. Groß17 ist |4| Regierungsrat geworden. Sonst nichts neues vor Paris; dh. doch, Thrachohns (??) Alte ist für unzurechnungsfähig erklärt worden, und ihre Gläubiger haben das Nachsehen. Die Nachrichten der Tagespost18 über Ihre spanischen Studien lege ich nach Ihrem Wunsche bei: die jämmerliche Stilisierung des Artikelchens rührt natürlich von Svoboda her.

Schreiben Sie bald wieder mal und zwar hieher, ich werde mir alles nachschicken lassen.

Mit herzlichen Grüßen

Ihr

GM.


1 Von Wolf, Nachlaß, 271 fälschlich auf Februar 1879 datiert.

2 Internationale Kunstausstellung [im Kgl. Glaspalaste] zu München.

3 Johann von Kelle (1828-1909), von 1857-1899 Germanist in Prag.

4 Ludwig Speidel (1830-1906), Kritiker in Wien, seit 1864 Feuilletonredakteur der Wiener FNP. Im HSA gibt es zwei Briefe Speidels vom 13.1.1879 bzw. 13.2.1879 ( 10735-10736), die Aufschluss geben könnten.

5 Aus Schuchardts Feder sind in der FNP im Jahr 1879 die beiden umfänglichen Arbeiten „ Liebesmetaphern“ und „Lorenzo Stecchetti“ erschienen.

6 „Kreuzband“.

7 „Liebesmetaphern“, S. 255 (Lessing, „Lied aus dem Spanischen“).

8 Louise von Gomperz, geb. Auspitz (1832-1912) war die Kusine und spätere Frau des österreichischen Bankiers und Industriellen Max von Gomperz (1822-1913). Vgl. HSA, Brief 20.6.?? [vermutlich 1879] aus Schloß Pfannberg.

9 Wilhem Gurlitt (1844-1905), Archäologe, 1877 nach Graz berufen.

10 „Versammlung Österreichischer Anthropologen und Urgeschichtsforscher in Laibach, 28.7.1879“.

11 Nicht identifiziert; möglicherweise auch „Kies“; es dürfte sich um ein Gasthaus handeln.

12 Anton Schönbach, Wilhelm Gurlitt, Richard Maria Werner, Otto Keller, Grazer Kollegen Meyers und Schuchardts.

13 Ehefrau von Prof. Karl Blodig sen.

14 Johann Blaschke (1810-1882), österr. Rechtswissenschaftler.

15 Raban Freiherr von Canstein (1845-1911), o. Prof. für Zivilprozess-, Handel- und Wechselrecht..

16 Alexander Grawein (1850-1897), Privatdozent Privatrecht, Handelsrecht, Wechselrecht, ab 1879 o.. Prof Czernowitz.

17 Möglicherweise der Grazer Hans Gross (1847-1915), der als Strafrechtler und Kriminologe Karriere machte.

18 Südost-Tagespost.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07162)