Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (09-07169)

von Gustav Meyer

an Hugo Schuchardt

Graz

18. 07. 1879

language Deutsch

Schlagwörter: Neue Freie Presse Grazer Tagespost Speidel, Ludwig Gurlitt, Wilhelm Wurmbrandt-Stuppach, Ladislaus Gundakar Alton, Johann Baptist Speidel, Ludwig (1989) Alton, Johann Baptist (1879)

Zitiervorschlag: Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (09-07169). Graz, 18. 07. 1879. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8039, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8039.


|1|

Graz 18/7 79

Lieber Freund

Wenn Sie mittlerweile wirklich Ihrem Sevillaner Liebesleben glücklich entronnen sind, was ich eigentlich noch nicht recht glaube, so werden Sie in Granada bereits einen Brief von mir vorgefunden haben, der ich weiß nicht mehr was für wichtige Nachrichten enthielt. Ich habe inzwischen einmal die Reise in Ihre neue Wohnung angetreten.1 Gott, welch schwindelnde Höhe! Ich glaube nicht, daß sie das auf die Dauer aushalten werden. Oben angelangt begrüßte mich das lang entbehrte Gesicht Ihrer treuen Marie2 mit freudigem Lächeln und zeigte mir Ihre Zimmer. Die Wohnung ist nicht so first-rate wie Ihre frühere, aber sehr hübsch und freundlich und die Aussicht ist ganz prachtvoll, |2| über die Bäume des Stadtparks hinunter zum Schloßplatz etc. Verwaist harren die Bücher auf ihren Gestellen des abwesenden Meisters.

Speidel3 rührt sich nicht. Ich habe wegen Ihres Aufsatzes dreimal an ihn geschrieben, zuletzt sehr energisch und recommandiert – er hat mir weder geantwortet noch den Aufsatz geschickt noch ihn abgedruckt – ich bin jetzt am Ende meiner Weisheit und wir müssen der Zukunft ruhig die Entwickelung dieses traurigen Dramas überlassen. Da ich seit einigen Wochen auch zu den ungeduldigen Autoren der NFrPr gehöre, so kann ich Ihren Schmerz vollständig würdigen. Speidel untergräbt gegenwärtig seinen Ruf durch eine bevorstehende Sammlung seiner Feuilletons.4

Das unglaublichste hat neuerdings unser gemeinsamer Freund Sacher-Masoch geleistet. Am 15. Juli erschien die erste Nummer einer von ihm redigierten, bis jetzt auch von ihm allein geschriebenen „Illustrierten Monatsschrift“ mit dem Titel „Schwarze |3| Punkte“. Das vorliegende Heft enthält zwar keine Illustrationen, dafür aber ganz dumme und abgeschmackte Schimpfereien über Graz und seine „Abderiten“,5 besonders über Svoboda und die Tagespost,6 einige Lanzen wurden für Frl. Strebinger7 gebrochen etc., das Ganze ist ganz entsetzlich witz- und geistlos, etwa der Standpunkt des Hans Jörgel.8 Er hat damit in den Augen vernünftiger den letzten Anspruch auf Achtung verscherzt.

Abgesehen von diesem epochemachenden Ereignisse ist hier nichts merkwürdiges passiert. Das Semester ist sang- und klanglos zu Ende gegangen, die ehrenwerten Freunde und Collegen sind teils schon auf ihren respectiven Sommerfrischen, teils werden sie bald auswandern. Gurlitt9 begibt sich demnächst mit seinem Freunde Wurmbrandt10 zum Anthropologentage nach Laibach.11 Was mich betrifft, so wissen Sie, daß ich die edelsten Vorsätze des Hierbleibens hatte, es wird mir wol aber auf die Dauer zu oede werden, leider kann ich wegen |4| allzu grosser Geldebbe dies Jahr nichts Grösseres unternehmen und werde mich auf eine kleine Abwesenheit im August beschränken müßen. Wohin weiss ich noch nicht.

Von Ihren bedeutenden Artikeln über andalusische Phonetik12 bringen Sie hoffentlich ein Exemplar mit. Schreiben Sie bald wieder einmal und machen Sie eine Andeutung, wann Sie an die Rückkehr denken, ich werde so oft danach gefragt.

Leben Sie herzlich wol und freuen Sie sich des Lebens

Ihr

GM.

Eben ist ein dickes Buch13 über die ladinischen Idiome von Alton in Prag erschienen.


1 Elisabethstr. 6.

2 Maria / Marie Oswald, Haushälterin in der Elisabethstr. 6 (Graz). Schuchardt wohnte zuvor in der Glacisstr. 1 (das Eckhaus Glacisstraße/Heinrichstrasse am Geidorfplatz).

3 Ludwig Speidel, s. o. HSA 07161.

4 Kein zeitnaher Nachweis; vgl. jedoch Ludwig Speidel, Fanny Elßlers Fuß, Wiener Feuilletons, hrsg. von Joachim Schreck, Berlin: Volk u. Welt, 1989.

5 Andere Bezeichnung für „Schildbürger“ (Christoph Martin Wieland).

6 Adalbert Svoboda (1828-1902), leitete von 1862-82 die Grazer Tagespost als Chefredakteur. – Hier eine Kostprobe Sacher-Masochs aus den Schwarzen Punkten: „Wenn man, wie ein echter Schildbürger, Graz niemals verlassen, oder höchstens Reisen nach Puntigam und Judendorf unternommen hat, kann man immerhin Goethe’s Vers aus den römischen Elegien variieren und Ausrufen: ‚Eine Welt zwar bist du o Graz!‘ Und wenn man auch nur für einige Jahre an die Grazer Scholle gebunden ist, kann man sich vielleicht in der Illusion wiegen, in einer großen Stadt zu leben; sobald man aber wieder einige Zeit in der wirklich weiten Welt zugebracht hat und in die Stadt der Grazien zurückkehrt, erschrickt man geradezu, wie klein das alles ist. Allerdings ist Graz ausgedehnt, aber, wie es scheint, nur, damit neben 10000 intelligenten Menschen, 80000 Abderiten darin Platz haben; in jeder anderen Beziehung ist es ebenso klein wie die Hauptstadt von Liliput, in der jeder halbwegs gut entwickelte Mensch für einen Riesen angesehen wird und den kleinen Köpfen und Herzen entsetzliche Furcht einflößt. Was Bildung betrifft, stehen manche unserer Abderiten mit den Kaffern und Hottentotten in der That auf gleicher Stufe. Wäre Rosegger’s Talent nicht durch die Protection eines Dr. Svoboda auf Abwege geraten, so hätte er vielleicht als Volksschriftsteller wirklich etwas leisten können.“

7 Kathrin Strebinger, Pastorentocher aus Morges bei Genf, übersetze Sacher-Masochs Novellen ins Französische.

8 Die Komischen Briefe des Hans-Jörgels von Gumpoldskirchen, Titel einer humoristischen österreichischen Monatsschrift, die zwischen 1832 und 1851 in Wien erschien.

9 Wilhelm Gurlitt (1844-1905), Grazer Archäologe.

10 Ladislaus Gundakar (Graf) Wurmbrandt-Stuppach (1838-1901), Grazer Anthropologe.

11 Die Versammlung Österreichischer Anthropologen und Urgeschichtsforscher fand vom 28.-29. Juli 1879 in Laibach statt.

12 Ironische Anspielung? Nicht realisiertes Projekt?

13 Johann Baptist Alton, Die ladinischen Idiome in Ladinien, Gröden, Fassa, Buchenstein, Ampezzo, Innsbruck: Wagner, 1879.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07169)