Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (02-07163)

von Gustav Meyer

an Hugo Schuchardt

Graz

01. 03. 1879

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Neue Freie Presse Speidel, Ludwig Schlossar, Anton Schönbach, Anton Krones von Marchland, Franz Xaver Gurlitt, Wilhelm Werner, Richard Maria Schuchardt, Hugo (1879) Naaf, Anton August (1879)

Zitiervorschlag: Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (02-07163). Graz, 01. 03. 1879. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8032, abgerufen am 08. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8032.


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Graz 1. März 79

Lieber Freund

Die novellistische Schilderung Ihrer Reiseabenteuer ist glücklich angekommen und hat nicht verfehlt weit über den Kreis der zunächst beteiligten hinaus Sensation zu erregen. Wir sind mit klopfendem Herzen der dramatisch bewegten Schilderung des Seesturmes sowie der liebevollen Charakteristik des Geroneser Papierfabrikanten gefolgt und der versöhnlich ausklingende Schluss mit dem durch das dunkelaugige Visàvis verschönten Diners in Barcelona hat uns alle in tiefer Bewegung zurückgelassen. Hoffentlich haben Sie beim Studieren dieser dunklen Augen mittlerweile erwünschte Fortschritte gemacht; Glücksmanns1 theoretische Anschauungen in spanische Praxis übersetzt müßten sich entschieden sehr gut machen. Wir werden uns alle sehr freuen, wenn Ihre erotischen und vinipotorischen Beschäftigungen Ihnen wieder einmal Zeit lassen uns von Ihrer Existenz in Kenntnis zu setzen. Für eine wahrheitsgetreue Ausbeutung Ihrer Schilderungen für die „Tagespost“ werde ich |2| Sorge tragen2. Vorläufig habe ich mich mit folgender kurzen Notiz begnügt: „Eingelaufenen Privatnachrichten zu Folge ist der auch in weiteren Kreisen unseres Publicums geschätzte Romanist H. Schuchardt glücklich in Barcelona eingetroffen, nachdem er unterwegs im Kampfe mit den empörten Wogen des Mittelmeeres Gelegenheit hatte die stählerne Energie seines Willens und der Elasticität seiner auf den Fechtböden von Bonn und Jena geschulten Körperkräfte selbst den wettergebräunten italienischen Seeleuten gegenüber in das glänzendste Licht zu stellen. Die Wirkung der ersten spanischen Chocolade war eine derartig günstige, daß sie einer Abteufung*) [am unteren Rand: Ich entnehme diesen mir unverständlichen Ausdruck den Berichten über die Dux-Teplitzer Katastrophe]3 der längst versiegt geglaubten Quellen seiner Lyrik zur Folge hatte (folgt das Gedicht). Wir werden nicht verfehlen unsern Lesern von Zeit zu Zeit Proben derselben vorzusetzen4; die catalanischen und baskischen Lieder sollen von einer geschmackvollen Übersetzung aus der Feder unsres geschätzten Mitarbeiters A. Sollosear5 begleitet sein“.

Es ist eigentlich frevelhaft, wenn ich Sie in Ihrer spanischen Existenz da unten Einblicke tun lasse in das traurige Weiterspinnen der unsrigen6, wo Lens7 noch immer unendliche |3| Schneemassen zur Vermehrung des unsagbaren Kothes herab sendet, wo Kleinsteinberg (??) nach wie vor die hehren Gestalten unsrer dramatischen Geistesheroen interpretiert, augenblicklich etwas kalt gestellt durch ein Gastspiel der Gallmeyer8, wo Glücksmann allabendlich mit immer steigender Frechheit den Silbersalon von O. Ries mit Frau Wipplingen (?) zum Puff entwürdigt, unterstützt durch Albions Stief-Töchter und den lakierten samt Heo Meo, wo der Haus-Componist von dem anstrengenden Liebesdienst bei seiner promessa sposa sich dadurch zu erholen sucht, daß er die Eifersucht des kleinen Herzogs rege macht (unter uns, ich glaube, dieser Tugendheld ist bei IHR schon weiter gekommen als es dem kleinen Herzog lieb sein dürfte – so wenigstens Franz!) usw. Ich erscheine nur selten dort um als wahrer Weltweiser Beobachtungen über die Nichtigkeit des irdischen Treibens anzustellen. Glücksmann9 ist in grosser Aufregung, weil in der „Heimat“ eine neue Novelle unsres ehemaligen Hauspoeten erscheint mit dem Titel „Ohne Liebe“ und weil er sich der Vermutung hingibt, daß er in derselben zum Gegenstand einer Ovation gemacht ist. Sonst ist nichts merkwürdiges zu berichten. In der chronique |4| scandaleuse unsrer guten Stadt ist nichts neues passiert, selbst der Eliteball war unergiebig hierfür. Speidel10 enthält den Mittwoch noch immer unsre Feuilletons vor, während selbst ein ASchlossar11 sich in den Spalten der der NFrPr. breit macht. In Petersburg ist ein Verstab12 vorgekommen, der sich nachher als ganz gemeine Syphilis entpuppte – eine Veranlassung dieses verpönte Wort nun auch in Damengesellschaft in den Mund nehmen zu dürfen. Wenn ich Ihnen schließlich noch mitteile, daß ich den beklagenswerten Weggang Schönbachs13 gestern abend bei Krones in Gesellschaft von Gurlitt14 und RM. Werner15 gefeiert habe, so werden Sie sich doppelt Glück wünschen nicht hier gewesen zu sein.

Addio! Die Bekannten grüßen Sie, selbst Raab und Staidovar, die jetzt vereinsamt ihre Saupartieen16 spielen.

Lassen Sie von sich hören

Herzlichst

Ihr

GMeyer


1 Vgl. HSA 07160.

2 Schuchardt, „Vom Barcelonaer Carneval“, Grazer Tagespost, 4. März 1879

3 Anton August Naaf, Die Dux-Teplitzer Gruben- und Quellenkatastrophe vom Jahr 1879: Auf Grund verlässlicher Quellen dargestellt, Leipzig: G. Kapp, 1879.

4 Nur nachgewiesen Schuchardt, „Vom Barcelonaer Carneval“, Grazer Tagespost 4.3.1879. Es dürfte dem vorliegenden Brief zu Folge noch weitere Artikel gegeben haben.

5 Vielleicht erfundener Name zu „sollozar / schluchzen“?

6 Die folgenden Anspielungen und Namen konnten nicht geklärt werden.

7 Nicht identifiziert, Wortspiel mit „Lenz“ (Frühling)?

8 Josefine Gallmeyer (1838-1884), deutsch-österreichische Schauspielerin.

9 Vgl. HSA 07160.

10 Ludwig Speidel (1830-1906); vgl. HSA 10735-10736; Speidel war Journalist und Musikkritiker und arbeitete für diverse deutsche, vor allem aber Wiener Zeitungen.

11 Anton Schlossar (1849-1942), Direktor der Universitätsbibliothek Graz und Schriftsteller.

12 Regionalismus für „Erstarrung“.

13 Anton Emanuel Schönbach (1848-1911), österr. Germanist in Graz; von einem „Weggang“ kann aber nicht die Rede sein.

14 Wilhelm Gurlitt (1844-1905), klass. Archäologe in Graz.

15 Richard Maria Werner (1854-1913), Germanist in Graz

16 Vierball- oder Saupartie, Variante des Billardspiels.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07163)