Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (01-07160)

von Gustav Meyer

an Hugo Schuchardt

Rom

14. 09. 1878

language Deutsch

Schlagwörter: Förster, Wendelin Diez, Friedrich Christian (1853) Hirdt, Willi (Hrsg.) (1993)

Zitiervorschlag: Gustav Meyer an Hugo Schuchardt (01-07160). Rom, 14. 09. 1878. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.8031, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.8031.


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[Roma, 14.9.1878]

Caro amico,

Da Sie mich so bald nach Ihrem Verschwinden von Graz mit einem unglaublich langen Brief meinerseits überfallen haben, fühlte ich bereits seit längerer Zeit das moralische Bedürfnis mich für diese Untat an Ihnen zu revanchieren *) [*) Sie sehen, daß ich über die Orthographie dieses Wortes aus absolutem Mangel an Diez1 nicht ganz klar bin, Woltmann2 leider auch nicht]. Leider wusste ich nicht, wo Sie sich nach den magern Abenteuern von Sembach3 oder Senheim4 wie das Nest hiess, aus dem Sie mir schrieben, hingewendet hätten. Nun höre ich zu meinem Erstaunen durch Frau K., daß Sie am Busen von Frau Sts. ruhend im Stadtpark gesehen worden sind. Meine Enttäuschung, nach dem ich Sie mir bereits in kalter Badewanne von Morgens bis Abends vorgestellt hatte. Diesem glücklichen Zufalle verdanken Sie diese Epistel; wenn5|2| sie nicht so inhaltsreich wird wie die Ihrige, so haben Sie das dem Umstande zuzuschreiben, daß ich mich nicht so langweile wie Sie in Sembach. Abgesehen davon, s. h.6 daß mir Woltmann wenig ruhige Stunden am Tage gönnt, geht es mir passabel; ich laboriere etwas am Heimweh nach – Graz, habe bis jetzt noch kein Fieber, stehe hier mit meiner blauen Cravate durchaus auf der Höhe der Situation und schimpfe über das Essen, das gegenwärtig hier noch schlechter ist als überhaupt in Rom. Woltmann, der Sie bestens grüssen lässt, ist unermüdlich für meine Ausbildung tätig, und ich habe bereits soviel althistorische Mosaiken hinter mir, als Sie sich in Ihrer Unschuld gar nicht träumen lassen. Wir |3| gehen von hier nach Gubbio, Urbino, Loreto, Ancona und von dort mit Lloydschiff nach Triest. Ich hoffe Dienstag d. 24. wieder in Graz einzutreffen.

Förster7 ist mit W. in Turin zusammen gewesen. Er ist von dort direttamente nach Neapel gereist, um den Dialekt von Ischia der Mit- und Nachwelt zu erschliessen! Dabei konnte er in Turin noch nicht einmal soviel Italienisch, um die üblichen Verhandlungen mit Kellnern und Hoteliers zu führen! Auf der Rückreise will er sich in Rom in die römische Gesellschaft stürzen! Er ist und bleibt doch ein frecher Mensch.

Dasselbe bleibt auch Glücksmann8. Sie werden bereits die unglaublichen Geschichten gehört haben, die er mit der rumänischen Principessa in der Stadt Triest aufgeführt hat. Die Scene, wo er den Comissario da capo |4| dazu brachte mit dieser ausgedienten Schneppe9 Freundschaft fürs Leben zu schließen, wird mir ewig unvergeßlich bleiben. Hoffentlich ist diese catilinarische Existenz noch nicht explodiert, wenn ich zurück komme. Grüßen Sie ihn von mir, dito den Hauspoeten, den ich in fieberhafter Aufregung über seine Zukunft verließ.

Hier in Rom fühlt man sich als Oesterreicher noch allenfalls sicher; in Firenze und Siena waren alle Ecken mit Placaten: Abbasso l’Austria! geziert. Man hofft allgemein in Folge der vielen Misgeschicke in Bosnien10 wenigstens auf das Trentino.

Leben Sie sehr wol. Auf Wiedersehen. Treulichst

Ihr

GMeyer


1 Friedrich Christian Diez, Etymologisches Wörterbuch der romanischen Sprachen, Bonn: A. Marcus, 1869-1878.

2 Alfred Woltmann (1841-1880), deutscher Kunsthistoriker, ab 1874 in Prag, ab 1878 in Straßburg.

3 Ortsgemeinde im Kreis Kaiserslautern.

4 Senheim an der Mosel ist eine Ortsgemeinde im Landkreis Cochem-Zell. Schuchardt wandelte dort möglicherweise auf den Spuren ferner Vorfahren, denn keiner der Orte ist „Kurort“.

5 Die erste Seite dieses Briefes ist wegen der gänzlich verblassten Tinte nur mit großer Mühe zu entziffern!

6 „soll heißen“.

7 Wendelin Förster (1844-1914), österr. Romanist, seit 1876 in Bonn; vgl. einige seiner Briefe aus dem Jahr 1878 aus Rom (15.10.; 28.10; 6.11) bei Willi Hirdt (Hrsg.), Romanistik. Eine Bonner Erfindung, Bonn: Bouvier, 1993, II, 1005-1009 (ohne Erwähnung Woltmanns).

8 Samuel / Carl Glücksmann; keine näheren Angaben. Er wird von Meyer häufig erwähnt und ist wohl nicht mit dem gleichnamigen Pharmakologen identisch. – Persönlichkeiten, über die Meyer Schuchardt Grazer und Wiener Klatsch und Tratsch mitteilt, werden in den Fußnoten nur in Ausnahmefällen näher vorgestellt!

9 Man würde „Schnepfe“ (=Prostituierte) erwarten; eine „Schneppe“ ist der Schnabel einer Kanne oder ein spitz zulaufendes Kleidungsstück.

10 Österreich-Ungarn war im Juni 1878 in Bosnien einmarschiert, stieß aber auf unerwarteten Widerstand; 1908 wurde das Gebiet annektiert.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 07160)