Adolf Harpf an Hugo Schuchardt (34-04397)

von Adolf Harpf

an Hugo Schuchardt

Leoben

08. 04. 1915

language Deutsch

Zitiervorschlag: Adolf Harpf an Hugo Schuchardt (34-04397). Leoben, 08. 04. 1915. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.7975, abgerufen am 27. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.7975.


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Leoben, 8. Grunert1 1915.

Hochgeehrter Herr Hofrath!

Heilgruß und Dank zuvor für das heilsame Privatissimum, welches Sie den desselben insbesondere bedürftigen Schwÿzer Bimpfen2 höchst zeitgerecht über die Gefahren der „Entvolklichung“ beim fortaudernden Mangel eigener deutscher Siedelungsländer, wo der Deutsche dauernd gedeihen kann, gelesen haben3. Das ist ja in der That des Pudels Kern, daß England uns solche Siedelungen für immer verwehren will und doch nicht können wird, so daß u. A. auch darum der Weltkrieg unserem Volke auf den Hals gehetzt werden mußte. Da ist in letzter Zeit eine sehr durchdachte Kriegsbroschüre von L. von Vietinghoff gen. Scheel: „Die Sicherheiten der deutschen Zukunft“ bei Theodor Weicher in Leipzig erschienen4. Darinnen |2| wird ebenso kurz zusammenengefaßt, wie zwingend begründet, daß die eigentliche und letzte Ursache der Landflucht und auch des Geburtenrückganges in unserem Volke lediglich die Landenge, der Landmangel ist, der uns in den völkisch verderblich übertriebenen Industrialismus und Merkantilismus treibt. – Wenn wir trotzdem auswandern müssen, treibt uns dieselbe Landenge aber auch in die Entvolklichung. Dem sattsam bekannten Schweizer Bimpfenthume gegenüber, das sich u. A. sogar in demselben Hefte von „Wissen u. Leben“, das Ihr offener Brief einleitet, ausprägt, thut es in der That dringend noth, einmal auch von etwas Höherem als jenem sog. Schweizer Ideale zu handeln. Und dieses Ideal ist und bleibt nun doch angesprungen, jener von einem überschweizerten Winterthurer angepöbelte |3| Zimmerli – wohl einer der bald zahlreicher werdenden weißen Raben unter den Schweizern – hat doch recht, das „Ideal von der hehren Harmonie der verschiedenen Rassen unter dem weißen Kreuz im rothen Felde“ ist in der That bereits zersprungen – und das ist auch eine der „Heilwirkungen“ des großen Krieges, der recht eigentlich der Weltherrschaft des völkischen Gedankens ist!5

Daß das Schwÿzer Ideal zersprang und zerspringen mußte, dafür sorgten aber vornehmlich die wälschen Schweizer; – wie sie das, fast möchte man sagen unbewußt angehen, dafür zeugt die Aufnahme jenes französischen Phrasenschwalles über die „Gestes d’humanité“ u.sw. in dem gleichen Heft v. Wiss. u. Leben6 – der doch, im Ganzen erfaßt, lediglich der Selbstverherrlichung des Franzosenthumes dient – alles Uebrige drum und dran ist doch nur Aufguß. Der Haupt- |4| ton liegt jedenfalls in Bemerkungen wie z. B. les officiers de marines – même des Allemands (S. 625 unt.) Tous les capitaines de vausseau allemands ne sonst pas, grâce à Dieu, comme ceux des sous-marins (ebda. Sie möchten wohl, daß alle deutschen Unterseebootführer die Opfer unklugen deutschen Edelmuthes würden, wie der prächtige Weddigen!)7

p. 626: Voici d’abord des gestes des Français – folgt eine Verhimmelung französischen Edelmuthes mit gleichzeitiger Herabsetzung der Deutschen. –

627: „un très-grand nombre de forfaits sont venüs, hélas! démentir ces maryns de gratitüdes (für was?) et ces velléités d’admiration des Allemands à l’égard des français u.sw. u.sw. Das Franzosenthum ist eben auch in der Schweiz schon seit jeher völkisch eins mit dem in Frankreich, das prägt sich in der Aufnahme dieses französischen Aufsatzes in das neutrale Schweizer Heft aus – sie können eben gar nicht anderes als in wälschen Belangen unneutral denken |5| und das eben sprengt das Schweizer „Ideal.“ Was aber das von mir sog. Schweizer Bimpfenthum anlangt, was nur ein bezeichnender Name für eben jenes „Ideal“ ist, so kristallisiert es sich ebenfalls klar im dem Aufsatze jenes eingeschweizerten Thüringer Sprößlings heraus, der da zur „Einbürgerungsfrage“ schreibt8. Sein Standpunkt ist genau der unserer Bewohner z. B. des Reckauergrabens im obersten Murthale u. anderer engabgeschlossener Graben-Eingeborenen in den Tauern – die sogar sehr streng auf allerengste Grabeninzucht halten – das ist die engste alpine Verengung des Nationalismus und die auch der Kern des Schweizer Ideals ist und eben dieses Extrem ist ihr Bimpfenthum.

Ich fürchte daher, Sie werden für Ihr Privatissimum, so klar es begründet ist – dermalen wenigstens noch wenig offene „ächt schweizerische“ Ohren finden – aber das wird erst in den allgemein europäischen Nachwirkungen des großen Krieges u. zw. ganz sicher noch kommen – einstweilen ist das Ideal eben erst angesprungen. |6| Nur mit dem Grundsatze am Schlusse Ihrer herzerfreuenden Ausführungen kann ich mich in der Allgemeinheit, wie er sich gibt, nicht vereinen. Da heißt es: „Allein das Gegenwärtige ist überhaupt immer wichtiger für die Wissenschaft, als das Vergangene!“ Ich weiß wohl, daß diese seit Nietzsche immer maßgebender werdende unhistorische Denkweise die ursprünglich Goethe’sche ist und in ihrer Art, in der durchaus auf dem unmittelbaren Eindrucke fußenden Denkarbeit Göthes gewiß ihre Berechtigung hat, – so daß Goethe überhaupt nur mit Unrecht als Entwicklungstheoretiker angesprochen und unter Darwins Vorläufer gezählt wird. Auf das Wie des Werdens hatte er es gar nie abgesehen, sondern immer nur auf die dem Gewordenen innewohnende (platonische) Idee – weßhalb er auch so durchaus unpolitisch dachte – denn erst die Geschichte kann der Politik Thatziele setzen. Allein aus dem geschichtlichen Werden eines Volkes kann auch dessen völkische Seelenkunde nur beweiskräftig erschlossen werden. |7| So, wenn man z. B. das heutige und zukünftige Verhalten der Englischen Politik mit deren nahen Vergangenheit vergleichend erschließt, was namentlich dann von psychologischem Erkenntniswerthe sein wird, wenn es einmal wieder ums Friedenschließen gehen wird, – um da nicht wieder wie in aller Vergangenheit übers Ohr gehauen zu werden. „Das vergangene Geschehen, können wir nur aus dem gegenwärtigen begreifen“ – und umgekehrt möchte ich hier beifügen – wir müssen uns also nicht nur das Vergangene „vergegenwärtigen“, sondern um wirklich zu verstehen auch das Gegenwärtige vergangenheitliche. So nur werden wir die englische Politik erst wirklich verstehen und dieses Erkennen zu unserem Nutzen gestalten können [8. S. N. S.]9

Das es, was ich in meinen demnächst gesammelt erscheinenden Kriegsaufsätzen „Der Erzfeind. Rück- und Ausblicke zum Weltkrieg“10 erstrebe. Ich bitte für das Büchlein, sobald es einlangen wird, um Ihre gütige Beachtung.

Heilgruß!

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N. S.11 ad S. 7 Kommt es aber dann vom Wissen zur That, zum praktischen Handeln als dem eigentlichen Ziele alles wahren Wissens, das immer ein zweckvolles sein muß, so gilt, es nicht nur sich das Vergangene zu vergegenwärtigen und das Gegenwärtige zu vergangenheitlichen, was schon zum bloßen Wissen noth that, – sondern dann müssen wir sowohl Gegenwart wie Vergangenheit in unseren Thatzielen verzukünftigen. Insbesondere alle politische Thatgestaltung muß nothwendig eine solche Verzukünftigung als angewandte Geschichte der Vergangenheit wie als angewandte Rassenkunde des unmittelbar gegebenen Gegenwartsstandes in Frage kommender Menschenartungen sein. (Hz.12 „Der Erzfeind, Einleitendes 1.) „Ueber angewandte Geschichte“. – 2.) „Ueber angewandte Rassenlehre“.

Hochachtungsvoll der Ihrige
Harpf


1 April.

2 Austriazismus, identisch mit „Pimpf“, ursprünglich „Darmwind“, dann „kleiner Kerl“ (im Nationalsozialismus Bezeichnung für die Angehörigen des Jungsvolks der HJ); hier im Sinne von „kleinen Kindern, unbedeutenden Jungen“ (dazu dann das Subst. „Bimpfentum“). Vgl. aber weiter unten im Brief Harpfs Erläuterungen.

3 Es kann nur Schuchardt, „Offener Brief“, Wissen und Leben (Zürich) 8, 1. Juli 1915, 601-613 gemeint sein, in dem Schuchardt den Anteil, den die verschiedenen Nationen am Krieg haben, aus seiner Sicht erklärt und auch den Standpunkt der „Neutralen“ analysiert. Harpfs Brief ist allerdings vom April 1915, der Artikel vom Juli. Möglich, dass Schuchardt ihm sein Ms. oder einen Fahnenabzug vorab zukommen ließ.

4 Leopold Ferdinand Adam von Vietinghoff Scheel, Die Sicherheiten der deutschen Zukunft, Leipzig: Weicher, 1915.

5 Gottfried Bohnenblust (Winterthur), „Dieses Ideal ist zersprungen“, Wissen und Leben (Zürich) 8, 1. Juli 1915, 631-633.

6 G. Bonet-Maury, „Gestes d’humanité parmi les belligérants de 1914-1915“, Wissen und Leben (Zürich) 8. Jg., 1915, 624-629.

7 Otto Weddigen (1882-1915), erfolgreicher deutscher U-Boot-Kommandant, war am 18.3.1915 mit der gesamten Mannschaft bei einem Angriff des britischen Schlachtschiffs „Dreadnought“ ums Leben gekommen.

8 Otfried Nippold, „Ein Wort zur Einbürgerungsfrage“, Wissen und Leben (Zürich) 8, 1915, 614-623. – Nippold (1864-1928) war ein deutsch-schweizerischer Jurist und Pazifist, der in Deutschland und seiner Wahlheimat Schweiz wirkte.

9 Verweis auf die Fortsetzung auf S. 8.

10 Graz: Leuschner & Lubensky, 1915, VIII, 120 S.

11 Abk. f. „Neue Seite“ oder „Nach-Satz“.

12 „Hierzu“ (?),

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