Adolf Harpf an Hugo Schuchardt (29-04392)

von Adolf Harpf

an Hugo Schuchardt

Kairo

24. 02. 1914

language Deutsch

Zitiervorschlag: Adolf Harpf an Hugo Schuchardt (29-04392). Kairo, 24. 02. 1914. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2020). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.7970, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.7970.


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Abbassîeh in der Fastnacht 1914.1

Hochverehrter Meister und Lehrer!

Ihrer hocherfreulichen Karte ist nun die noch viel erfreuendere Geburtstagsschrift an Gartner für mich und wohl noch manch‘ Anderen keineswegs „sero post festum“ gefolgt.2 Doppelt erfreut dieses Ihres immer jungen Geistes Kind, weil Sie darin eine solche Frische und Entschiedenheit des Ausdruckes erreichen, daß ich nach wiederholter Lesung Ihrer „Deutschen Schmerzen“ wahrhaftig meinen „Wer ist’s“ vom Bücherbrette nahm und darin Ihren Namen aufschlagen mußte.

Ich begann nämlich an meiner Erinnerung zu zweifeln, die mir doch sagte, |2| daß Sie den Siebenziger bereits überschritten hätten.

Meine Erinnerung hat sich zwar nicht als trügerisch erwiesen – wie glücklicherweise mein jüngster Traum. Mögen Sie über diesen immerhin spotten, daß „auch in Aegÿpten doch nur während der Pharaonenzeit die Träume in Erfüllung gingen“ – ich halte u. zw. je älter ich werde umso fester daran, daß es nicht nur in Aegÿpten und nicht nur in der Pharaonenzeit Träume gab, die Wirklichkeiten bedeuten.

Zu oft wurde ich davon in meinem nun zur Ueberzeugung doch wohl schon hinreichend langem Leben durch unmittelbare und meist schmerzliche Erfahrung belehrt, so daß ich mich längst vor meinen eigenen Träumen thatsächlich fürchte. – |3| Ueberhaupt träume ich glücklicherweise nur selten, denn ich kann, auch wenn ich noch so ermüdet bin, in der Nacht doch im Allgemeinen nur 5 bis 6 Stunden schlafen und muß das Fehlende, um mich wohl zu befinden, durch ein Schläfchen am Tage einbringen. Aber in der kurzen Zeit seiner Dauer ist mein Schlaf im Allgemeinen fest und traumlos. Umso unbehaglicher wird mir beim Erwachen, wenn ich einen Traum hatte, weil er meistens so klar ist, daß mir seine Bilder wie wirkliche Erlebnisse vor Augen stehen, die sie auch häufig wirklich vorbedeutet haben. Ein Beispiel aus letzter Zeit: Einen meiner letzten derartig unheimlich klaren Träume hatte ich vor drei Jahren. Ich sah mich in Leoben in meinem Bette liegen, in welchem ich zur selben Zeit auch wirklich schlief. Da kam zur offenstehenden Thür mei- |4| nes Leobner Arbeits- und Schlafzimmers – die ich aber in Wirklichkeit zur Nachtzeit immer schließe, – ein mächtiger Grizzly-Bär herein, dessen gräuliche Rückenbehaarung ich deutlich sah. Er kam mit offenem Rachen geradeaus an mein Bett heran, machte aber keine Miene auf mich loszugehen, wie ich denn auch gar nicht vor ihm erschreckte.

Eine Woche darnach kam ohne jegliche Voranzeige, ohne daß meine Frau, oder ich oder sonst wer von uns die geringste Ahnung eines beabsichtigten Besuches haben konnte – meine älteste Stieftochter, meiner Frau Erstgeburt, aus Amerika zu Besuch. Sie hatte seit Jahren überhaupt nichts von sich hören lassen. Ich kannte sie als schlankes, blutjunges Weibchen, als sie vor 30 Jahren mit ihrem Mann auswanderte. |5| Jetzt ist sie ein dickes, mächtiges Weib mit stark graumeliertem Scheitel, so daß ich sie nicht wiedererkannte, als sie mir zur Thüre herein in mein Zimmer geschneit kam, wo ich sie zuerst und allein empfieng, da meine Frau gerade ausgegangen war. Mir aber erhob sich sogleich die Frage, wie konnte ich von dem Grizzlÿ-Bären träumen, da ich an einen solchen gar nicht zu denken Anlaß hatte und vielmehr ganz andere Dinge meinen Geist Tags über voll in Anspruch nahmen.

Lachen Sie nun wie Sie wollen! Es haben ja sicher nicht alle Träume und vor Allem nicht aller Menschen Träume ihre Wirklichkeitsbedeutungen; – danach hat es zweifellos von altersher solche Menschen gegeben, deren – sit venia verbo - |6| geistig Theil gerade in der Zeit gerade des festesten Schlafes sozusagen wandern gehen konnte. Das ist freilich – reinste Mÿstik, die sonst nichts weniger als meine Liebe hat, da so viel Unfug damit geschieht. Aber auch in aller Mÿstik sogut wie in alten Völker-Ueberzeugungen aller Zeiten, wie eine solche die Möglichkeit des Träumedeutens ist – steckt doch immer mindestens irgend ein Körnlein von Wirklichkeitsgehalt. Es handelt sich mehr darum diesen ohne Ueberschätzung und Uebertreibung – die freilich hier so nahe liegt – herauszuschälen. Und warum sollten wir auch, da doch die heutige materialistische Naturwissenschaft selbst sich der Annahme von Fernwirkungen nicht mehr verwehren kann und diese Annahme sogar schon zu einer Umwälzung ihrer atomistischen Grundanschauun- |7| gen immer entschiedener hinführt, – warum sollten wir da nicht Fernwirkungen der feinsten, höchstgestalteten Naturkraft – des menschlichen – überhaupt thierischen Lebensprinzipes – unter entsprechend günstigen Umständen wie sie der todähnliche feste Schlaf herbeiführen mag, – annehmen können??

Genug – übergenug des Fastnachtscherzes – höre ich Sie schon rufen, da Sie aus meinem Briefkopfe entnehmen, daß ich diesen Schreibebrief in der Fastnacht verbreche!

Darum nun lieber zu Ihren – zu unseren „Deutschen Schmerzen“3. Sie haben wahrhaft befreiend – schmerzstillend mit Ihrer unumwundenen Aussprache dieser Schmerzen gewirkt. Lassen Sie mich zunächst nur die Lapidar- |8| sätze herausgreifen, die mir ganz insbesondere aus dem Herzen geschrieben sind:

S. 7 „Nicht ist die Sprache unsere Herrin, wir sind die Herren der Sprache“ (Ich glaube nicht, daß es noch einen zweiten lebenden Sprachforscher giebt, der sich zu gleicher Höhe der Anschauung seines Faches erhebt – solches war und wird immer nur Sache ganz Großer sein.)

S. 9 „Jeder spreche wie ihm der Schnabel gewachsen ist; aber er mache den Schnabel ordentlich auf“. – (Noch undeutlicher reden – mit Ausnahme allerdings der stets sehr energischen Artikulation des p. u. t: die Engländer und vollends die Amerikaner, deren Reden oft nur mehr ein Lallen ist. Unlust zur Anstrengung um des Wortes willen – scheint auf germanischen Urgrund zurückzugehen, dem das Thun immer wichtiger als das Reden war – während alle mittelländische Mischung sich mit hingebender Wortlust im Redeschwall ergeht.)

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S. 8: „Auch der Gebildete kann, will, soll nicht alle Fäden zerreißen, die ihn an die Mundart knüpfen oder es sondert sich das Hochdeutsche wirklich als besondere Sprache ab, so vom Plattdeutschen und vom Schweizerdeutschen“.

S. 19: „Norddeutsches dringt ohnehin schon übermäßig nach dem Süden vor; innerhalb des Reiches würde es dann noch leichter die Oberhand bekommen, und Oesterreich und die Schweiz müßten sich anschließen“ – oder aber sie würden sich sprachlich abschnüren – wie vorlängst schon die Niederländer und Vlamen.

S. 15: „wem die Bewältigung und Form geistigen Stoffes obliegt, der muß die Hände frei haben.“ – aber doch muß den Sprachverderben heute ein entschiedenes „hands off“ zugerufen werden, wie es schon Schopenhauer (Parerga II.§ 283) that.

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10.) Ad vocem „Norddeutsches“ S. 19: Ja, ja das „Nochtdeutsche.“ Da las ich nämlich einen Aufsatz über oesterreichische Sprachsünden in Samassas „Deutsch-Oesterreich“4. Außer vielem wirklich Sündhaften beanstandete da der zweifellos „nochtdeutsche“ Verfasser auch viele ganz gut deutsche Bayuvarismen, die eine unzweifelhaft bessere Gebrauchsberechtigung im Deutschen aufweisen, als zahllose Berlinismen, die in unser heute geschriebenes Deutsch eindringen. Mich juckt es noch heute darauf zu erwidern – aber ich habe vorerst die unerwartet heftigen Ausfälle der sog. Ganz-Enthaltsamen auf das Hauptstück „Religion und Alkohol“ in meinem jüngsten Amerikabuche zu verwinden.5 Beider – der „Ganz-Enthaltsamen“ und des nochtdeutschen Sprachrei- |11| nigungsfanatikers6 Leÿer hat eben nur je 1 Seite auf der sie unablässig herumzuzupfen nicht müde werden. Daher sind ihnen alle Musikanten unausstehlich, deren Instrumente mehrsaitig bespannt sind – wie ja auch das Ihrige. Sie werden mit Ihren Schmerzenstönen daher auch wenig Gnade vor ihnen finden.

Nun aber doch in aller Kürze auch noch einige eigene Bedenken, denn ich bin ja auch sozusagen ein Deutscher – wenn auch nur ein oesterreichischer, warum sollte ich da nicht auch meinen Kopf aufsetzen dürfen!?

Ad S. 8: Das Nationale und das Internationale irgendwie in eine versöhnliche Beziehung zu bringen – halte ich aus dem Grunde des ausgeschlossenen Dritten für logisch fruchtlose Liebesmühe. Stimmhaftes Anlaut S findet sich nur in Gegenden mit slawischer Blutmischung z. B. bei uns im Marburger, im Klagenfurter Deutsch.

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12.) Ad S. 9: Und die deutsche Kurrentschrift?? zu der ich z. B. immer mehr heimkehre, je älter ich werde, so daß lateinische Buchstaben zu winden mir schon wider die Feder geht. Im Drucken ist die Buchschrift schon wegen der unbestritten leichteren Lesbarkeit vorzuziehen – das merk‘ ich recht deutlich, seitdem ich nur mehr mit Brillen lesen kann – auch ist sie der deutschen Sprache allein angemessen – oder wie wollen Sie sonst Masse und Maße u. dgl. (Sehen und sehen)7 unterscheiden?

S. 11 Auch mir sagte „volklich“ von Anfang an besser zu, weshalb ich – da vor der Jahrhundertwende der Gebrauch von „völkisch“ noch nicht überwiegend |13| war „Ueber deutschvolklisches Sagen und Singen8 schrieb. Jetzt bin ich allerdings auch ins „Völkische“ Lager gegangen. Sie haben Recht: Frage der Macht „S. 18 und Mode“ – das ist es? –

S. 16. Können wir aber Verb und Objekt nicht mehr trennen – dann sind wir bald so weit wie Engländer und Romanen – wir verlören alsbald unseren Akkusativ. Ich kann solche Sprachverarmung nicht mitmachen. Und vollends unsere „stolzen, kunstvollen Perioden“ – die sind es ja gerade, die unsere Sprache über alle anderen modernen Sprachen erheben. Besonders die Blüte deutschen Geistes, die unsere deutsche Philosophie bedeutet, hätte sich ohne die Möglichkeit unseres Periodenbaues gar nicht entfalten können – wie denn das, was man französische – englische Philosophie zu nennen beliebt, gar nicht Philo- |14| sophie im wahren Sinne ist. Ueberhaupt hat sich diese höchste Blüthe arischen Geistes nur bei Indern – alten Griechen und – Deutschen entfalten können, eben Dank der Möglichkeit kunstvollen Satzbaues, der selbst im Urgrunde nichts als ein Ausfluß eben des philosophischen Geistes dieser Völker ist. Rassenpsychologisch aber glaube ich diesen Stil in meinem Hauptstücke vom „schrifttümlichen Stile“ in „Natur- u. Kunstschaffen“9 S. 130ff. so eingehend erörtert und beleuchtet, daß ich mich hier nur abschreiben könnte – wollte ich Alles das hieher setzen, was mir in dieser Hinsicht seit jeher am Herzen gelegen ist.

ad S. 18: Auch ich war und bin immer gegen jegliche Art künstlicher Weltspra- |15| che gewesen. Was brauchen wir eine solche, da doch das Englische im Notfalle alles erfüllt, was uns eine solche bieten könnte. Formenarmut, Einfachheit und Knappheit des Ausdruckes bis zur splitternackten Dürftigkeit, nur Syntax, die den Gedanken in ihr immer gleiches Prokrustesbett zwängt – was Ihnen allerdings S. 16 ff. auch als Ideal deutscher Sprachentwicklung vorzuschweben scheint – und Wörter lernen muß man doch auch, wenn man eine Kunstsprache gebrauchen will; kommt beim Englischen nur Aussprache und Schreibung dazu, die sich aber bekanntlich mit dem Wortbilde selbst nach der Ueberwindung erster Schwierigkeiten leicht „assoziieren“. So, das wären so im Ganzen meine Schmerzen zu Ihren – Schmerzen.

Mögen Sie darum nicht gram werden Ihrem allzeit Ergebensten
Harpf


1 Der Aschermittwoch fiel 1914 auf den 25. Februar; Fastnacht ist streng genommen der Dienstag davor, also wäre der Brief auf den 24.2. zu datieren.

2 Schuchardt, An Theodor Gartner zum 70. Geburtstag (4. November 1913). Deutsche Schmerzen. Graz: K. k. Universitäts-Buchdruckerei Styria, 1913.

3 Schuchardt, An Theodor Gartner zum 70. Geburtstag (4. November 1913). Deutsche Schmerzen. Graz: K. k. Universitäts-Buchdruckerei Styria, 1913.

4 Deutsch-Österreich. Wochenschrift für Politik, Kunst und Kultur . Hrsg. Paul Samassa, Wien 1913f. – Zu Samassa (1868-1941) vgl. ÖBl 1815-1950, Bd. 9 (Lfg. 45, 1988), S. 407f.

5 Harpf, Amerika und die Religion der Zukunft; kulturvergleichende Fernsichten, Graz: Leuschner & Lubensky, 1914. Vgl. die Präsentation in: ARCHIV Katalog 18 – Lebensreform und völkische Bewegungen: „Das Werk ist ein Gegenstück zu dem bereits 1905 erschienenen "Morgen- und Abendland" (siehe Folgenr.), dem Gegenpol von Amerika. Auch hier beschäftigt sich der ariosophisch orientierte Autor wieder mit Kultur- u. Rassenstudien; er ist eigens nach Amerika gereist, um sich ein Bild von der dortigen Kultur zu machen - vorliegendes Buch berichtet also von der Reise u. den gewonnenen Eindrücken, dabei auch etwas ausführlicher über das amerikanische Sektenwesen“.

6 Nicht identifiziert.

7 Was Harpf sagen will, versteht man nur, wenn man das große und das kleine S der deutschen Schrift nebeneinanderstellt.

8 Harpf, Ueber deutschvolkliches Sagen und Singen. Streifzüge im Gebiete deutschen Schrift- und Volksthums, Leipzig: Werner,1898.

9 Harpf, Natur- und Kunstschaffen, Jena: Costenoble, 1910.

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