Paul von Ebart an Hugo Schuchardt (13-02668)
von Paul von Ebart
an Hugo Schuchardt
23. 06. 1913
Deutsch
Schlagwörter: Schmidt, Erich Thümmel, Moritz August von (1803)
Zitiervorschlag: Paul von Ebart an Hugo Schuchardt (13-02668). Tutzing, 23. 06. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2021). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.7934, abgerufen am 24. 03. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.7934.
Tutzing, 23.6.13
Hochgeehrter Freund!
Für Ihren lieben Brief danke ich herzlichst. Daß die Tagebücher sich in Gotha befinden war mir bekannt. Ich sitze über einer Arbeit, um mir damit einige Mark zu verdienen. Es ist die Herausgabe des Tagebuchs des Ministers Thümmel 1804/081 – er wurde mit Ihrem Großvater nach Paris geschickt um dem Kaiser zu huldigen und der Verheiratung Jéromes und der Katharine von Württemberg beizuwohnen2. In diesen merkwürdigen Aufzeichnungen, von denen ich nicht weiß, ob sie |2| schon publizirt, (eine Anfrage an den Urenkel des Ministers blieb bislang ohne Antwort) steht eine Stelle, die sich mit Ihren Worten deckt, sie lautet: „Unser Freund Bauflers freut sich über den Glanz jeder Pfirsiche, die er gezogen hatte. Glaube mir, lieber Weil, je mehr ich die große Welt in der Nähe betrachte, je mehr nimmt meine Verachtung gegen dieselbe zu. In der ganzen Bibel steht nicht ein so wahrer Spruch wie im Candide de Voltaire: Cultivez votre Jardin. Dies ist der einzige Beruf |3| der Menschen, und der einzige Ort, wo er Glück finden kann, wenn er es nur finden will“. Ich lebe ähnlich wie Sie, verehrter Gönner. Gehe um 9 Uhr ins Bett – stets alleine – stehe gegen 4 Uhr auf, die Morgenruhe ist wohlthuend und ich kann arbeiten. Dieses kleine Fischerdorf bietet Alles, was ich noch nöthig habe. Einige brave Menschen, mit denen ich hier nach Hofart verkehre und die mich ab und zu geistig bestaunen. Im Winter war ich in Berlin und hörte ein Semester bei meinem leider zu früh verstorbenen Freund Erich Schmidt3 Vorlesungen über die Literatur des XVIII. Jahrhunderts |4| und 4 mal wöchentlich solche über Faust II. Teil. Aber das Leben u. Treiben hatte mich so nervös gemacht, daß ich allen Heiligen dankte wie ich diese Großstadt mit ihrem Lärm hinter mir hatte. Ich glaube Dante hat Berlin gekannt, als er im Purgatorio I. V. 26ff. schreibt:
„O du verwaistes Land, du öder Nord
Du siehst den Glanz der schönen Lichter nimmer!"4
Diese Strofe fiel mir ein, als ich auf der Eisenbahn saß um nach hier zu fahren. Die schönste Erinnerung an Parvenupolis5 ist die an |5|Schmidt; fast täglich war ich mit ihm zusammen und haben wir viel gescherzt und gelacht – sein frühes Ableben ahnte er, denn gegen den Schluß des Semesters verfiel er auffallend und wurde eigentlich immer weniger,
Der Verlust an guten Freunden, den ich erlitten, ist enorm; ich komme mir manchmal vor, wie eine alte Sommerkiefer, welche einsam am Wandabhang eines kahlen Felsens stehen geblieben ist. Wenn ich noch einmal so viel Geld habe, um die Reise zu bestreiten, suche ich Sie vor meiner Abreise in die Aschenurne noch einmal auf, denn wirklich |6| Der große Goethe hat recht: „Was bleibt uns denn viel Reelles vom Leben, als das Verhältniß zu vorzüglichen Gleichzeitigen?“6
Somit Gott befohlen, verehrter Gönner, bleiben Sie gesund und erhalten Sie freundlichen Anteil
Ihrem alten treu
ergebenen
vEbart.
1 Moritz August von Thümmel, Reisetagebuch der Reise nach Paris und Holland, 47 Bl,, Original, Coburg, Landesbibliothek - Ms 303(7), [47] Bl. (keine Ausg. nachweisbar). Der Text ist jedoch digitalisiert: https://bit.ly/3za9mzr
3 Erich Schmidt (1853-1913), deutscher Germanist, Professor in Straßburg, Wien und Berlin; vgl. HSA 10082-10083.
4 Dante, Divina Commedia, Paradiso I (Übers, Streckfuß).
5 Diesen Namen gab Maximilian Harden (1891-1927) der Stadt Berlin.