Hugo Schuchardt Archiv

Prag, Platteis, den 7. Dezember 1900.

Lieber Freund,

Auch gestern fehlte mir die Zeit, dir ausführlich zu schreiben und von dem zu sprechen, was sich in wenigen Zeilen nicht abthun lässt. Welche Indiskretionen begangen worden sind, weiss ich nicht. Seit mehreren Monaten weiss ich aber, dass M.-L.¹ sich für die romanische Lehrkanzel in Graz bewirbt. Ich hörte die Nachricht nicht nur einmal und nicht nur aus einem Munde. Auch weiss ich, dass von irgend Jemand die Nachricht verbreitet wurde, ich würde deinem Beispiel bald folgen. Dass ich daran gedacht habe und es auch offen gesagt, leugne ich nicht. |2| Aber es war zu einer Zeit, wo ich überhaupt nicht daran dachte und auch nicht daran glaubte, dass du dich so bald zurückziehen würsdest. Dass das hohe kk. Ministerium, als der Innsbrucker Vorschlag stattfand,² desgleichen that, als wenn er mich nicht angehen würde, brachte mich auch zu der vielleicht irrigen Meinung, man wolle weiter nichts von mir wissen. Meine Absicht bleibt also dieselbe wie damals, dass wenn bei einem neuerlichen, wirklichen Vorschlage ich wiederum unberücksichtigt bleibe, ich meinen Abschied in nicht zu ferner Zeit nehmen werde. Gegen den |3| Willen meiner zukünftigen Collegen durch die Hinterthüren oder durch irgend eine Pression irgend wohin zu gelangen, fehlt mir das Zeug. In meinen Augen ist ein derartiges Streben unanständig. Ich würde daher, selbst wenn du die Macht hättest mich zu deinem Nachfolger zu ernennen, niemals einen Schritt bei dir gethan haben. Ich sagte Nachfolger. Das Wort ist hier nicht am Platze. Denn einen wirklichen Nachfolger von dir kenne ich nicht. Denn mit dem was Andere vor dir als unbrauchbares Material bei Seite gelassen, hast du ein Gebäude errichtet, welches noch heute |4| ohne Risse besteht. Das riesige Gebiet, welches deine Forschungen umfassen, setzt dich hors concours, wie man sagt. Deine weiteren Mittheilungen, wofür ich vielmals danke, brauche ich nicht zu beantworten. Die Gelegenheit ergreife ich gerne dir für deine Probe-vorlesung, Über die Klassifikation der romanischen Mundarten,³ die für die damalige Zeit so viel Neues enthielt, herzlichen Dank zu sagen. Ich hatte sie schon in Bern gelesen, wo Freymond⁴ sie mir geliehen. Denn ich war zehn Tage dort, wo ich eine Virgilhandschrift⁵ der Distinction wegen untersucht habe.

Mit vielen herzlichen Grüßen

Dein dich hochverehrender Freund

J. Cornu