Karl Jaberg an Hugo Schuchardt (03-04996)
von Karl Jaberg
an Hugo Schuchardt
14. 01. 1913
Deutsch
Schlagwörter: Baskisch
Französisch Schuchardt, Hugo (1912) Gilliéron, Jules (1912)
Zitiervorschlag: Karl Jaberg an Hugo Schuchardt (03-04996). Bern, 14. 01. 1913. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.7403, abgerufen am 20. 05. 2025. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.7403.
PROF. DR K. JABERG
WESTSTRASSE 11
BERN
[14.1.1913]
Sehr geehrter Herr Kollege!
Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen erst heute für die liebenswürdige Übersendung des Separatabzuges aus d. Anthropos1 danke. Ich habe Ihren scharfsinnigen und gedankenreichen Aufsatz mit grösstem Interesse gelesen. Besonders fruchtbar für Untersuchungen über Bed. Wandel scheint mir die scharfe Unterscheidung zwischen Bezeichnung und Bedeutung, Geschichte der Bezeichnung und Geschichte der Bedeutung. Aus der Darlegung S. 833 ergibt sich wohl der logische Schluss, dass man die Frage nach den Gründen|2| nur beim Bezeichnungswandel stellen kann. Ob das in allen Fällen richtig ist? Ich habe an die Bed. Differenzierung gedacht, wo wie mir scheint, die Frage nach dem Warum der Bedeutungsverengerung gerechtfertigt ist. Sie führt uns hier nicht zum individuell gefühlten Bedürfnis; die Sachlage ist hier viel mehr die dass ein sinnloser Reichthum zum sinnvollen gewandelt wird. Es wird wohl niemand ein Bedürfnis danach empfinden, gekochtes Eiweiss von ungekochtem sprachlich zu unterscheiden; wenn aber in Südfrankreich ein ,blanc d’œuf‘ neben ein altes claria tritt, so benutzt man sprachliche Doppel zu einer be- |3| grifflichen Scheidung. Doch liesse sich vielleicht auch hier Wirksamkeit eines Bedürfnisses annehmen, insofern nämlich dieses durch die Produktion erst geweckt wurde.
Identität von Bed.Geschichte & Bezeichnungsgeschichte haben wir wohl bei der Bedeutungsverschiebung abstrakter Begriffe, z. B. humilis in römischer & christlicher Auffassung. –
Darf ich Sie bei dieser Gelegenheit um eine Auskunft bitten. Diez Wb. S. 622 schreibt: Der Baske hat für den juni und juli ein und dasselbe wort, garagarilla gerstemonat s. Astarloa p. 396, nach Larramendi ist dies der Name des juni,; der juli heisst garilla“. Wer hat recht, oder beziehen sich die |4| Angaben auf verschiedene Dialekte? Was bedeutet gara, was garilla. Die Frage wird mir durch Gilliérons Clavellus2 S. 5 nahegelegt, wo ich mir juil = Juni, juillet = Juli durch baskischen Einfluss erklären möchte. (Auch die übrigen Fälle der Dédiminutivation3 scheinen mir wenig wahrscheinlich). Wenn Sie Zeit haben, sich einen Augenblick mit der Frage zu beschäftigen, wäre ich Ihnen für Aufschluss sehr dankbar.
In vorzüglicher Hochachtung
Ihr ergebener
K. Jaberg
Bern 14/I 1913.
1 Schuchardt, „Sachen und Wörter“, Anthropos 7, 1912, 827-839.
2 Gilliéron, L’aire Clavellus d'après l'atlas linguistique de la France. Étude de géographie linguistique. Résumé de conférences faites à l'École pratique des hautes études en 1912, Neuveville: Beerstecher, 1912.
3 Das Terminus stammt von Gilliéron, der in Clavellus, S. 5-6 das von Jaberg erwähnte Thema behandelt.