Rudolf Beer an Hugo Schuchardt (17-00914)

von Rudolf Beer

an Hugo Schuchardt

Wien

25. 01. 1907

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätsbibliothek Graz Kaiserliche und Königliche Hof-Bibliothek (Wien) Schuchardt, Hugo (1910) Pitollet, Camille (1909) Pitollet, Camille (1935)

Zitiervorschlag: Rudolf Beer an Hugo Schuchardt (17-00914). Wien, 25. 01. 1907. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.7267, abgerufen am 16. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.7267.


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KAISERL. KÖNIGL. [Wappen mit Doppeladler] HOF-BIBLIOTHEK
Wien, 25 Januar 1907

Hochverehrter Herr Hofrat,

der 2. Bd. der III. Serie der Revista (1898) bringt tatsächlich zwei Aufsätze von Berlanga,1 die, obschon etwas allgemein gehalten u. in eine Polemik gegen Humboldt auslaufend, doch von Ihnen werden berücksichtigt werden müssen; sie sind ziemlich umfangreich. Der Band kann auf Ersuchen der Direktion der Grazer Univ.-Bibl. sofort dargeliehen werden.

Verzeihen Sie, daß ich diese Auskunft erst etwas verspätet erteile. Ich hatte dieser Tage mehr zu tun als sonst; der letzte Bogen meiner Studie über die alte Ripoller Bibliothek erhielt eben das Imp,2 zudem habe ich auf Wunsch der Kirchenväterkommission eine längere Darstellung der Textge-|2|schichte der Etymologiae Isidors auf span. Boden geliefert, die auf grund methodischer Durchforschung der wertvollsten Textzeugnisse zum Schluss den Nachweis jener codices bringt, die zunächst für eine Neuausgabe, welche die Kommission plant, herangezogen werden müssen.3 Die Arbeit ist für den privaten Gebrauch der Komm. bestimmt, unser armer Hartel,4 der den 1. Teil noch sah, war außerordentlich befriedigt, wünschte kategorisch die Veröffentlichung, ich bleibe aber dabei, daß die Sache, zunächst doch nur wegweisend, der internen Benutzung vorbehalten bleibe. Zumal ist, wie der Akad., so speziell der Kirchenväterkommission ein mächtiger Faktor entrissen worden,5 und diese Tatsache ist mit manchen andern gar wohlgeeignet mich noch mehr zu verstimmen als ich es bisher war.

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Desto mehr freute mich Herrn Hofrats anerkennendes Wort. Sie haben wieder den Nagel auf den Kopf getroffen - es fällt mir nicht ein, mehr aus der Epoche darzulegen als die vom Monarchen geförderten Kunst- und Kulturbestrebungen. Man war enttäuscht, da - z. B. beim Zusammentragen von 2000 griech codices, von arab., pers., chinesischen Mss. für den Eskorial - keinen Fanatiker an der Spitze zu sehen und wollte mir nicht glauben. Und Sie haben tausendmal Recht, wenn Sie historisch-politische u. religiöse Interessen als sich deckend annehmen. Die Reconquista war zu Ende, allerdings, aber der Kampf, für den Augsburg den einen, Lepanto den andern Pol bildete, sollte von Neuem beginnen. Es erscheint paradox, es ist aber wahr: Für die Spanier erschoß die deutsche Kritik in Philipp II einen Andreas Hofer; und wenn die |4| Chauvins unten hinter den Pyrenäen uns vorwerfen, daß wir nur darum so laut schreien, weil wir vertuschen wollen, daß die Hexenprozesse bei uns noch gründlicher betrieben wurden, so weiß man nicht, was man antworten soll. Für unsere gegenwärtige Zeit wieder sind Vorgänge wie jene, die sich von Kuchelbad6 durch die zärtliche Behandlung der Prager Deutschen Universität zu Prof. Wellners zerschossenem Auge ziehen,7 u. zw. praetoribus annuentibus, charakteristisch, wie herrlich weit wir es gebracht haben.

Der Standpunkt des alten Birk: documenta damus ist auch der meinige. Zu richten oder gar zu demonstrieren liegt mir fern, ich möchte nur verstehen. Es lag mir auf der Seele, Ihnen, hochverehrter Herr Hofrat, das zu sagen: Ihr Urteil ist mir sehr, sehr maßgebend.

In Verehrung Ihr
RBeer.

NB. Ich habe Herrn Pitollet8 nie in meinem Leben gesehen, bin ihm recht dankbar, wenn ich gleich gewünscht hätte, daß die Sache besser frz. geschrieben wäre.


1 Manuel Rodríguez de Berlanga y Rosado (1825-1909), spanischer Jurist und Epigraphiker. Schuchardt erwähnt ihn in „Die iberische Deklination“, Sitzungsberichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-Historische Klasse 157,1907, 1-90 auf S. 20, 28, 40, 72-73 (Berlanga, Revista de arcivos., bibl. y mus. 3. ép. I, 1897, 481-497), ohne jedoch auf Beer zu verweisen.

2 Imprimatur.

3 Rudolf Beer (Hrsg.), Isidori Etymologiae; Codex Toletanus (nunc Matritensis) 15, 8 phototypice editus, Lugduni Batavorum: Sijthoff, 1909 (Codices Graeci et Latini photographice depicti; 13).

4 Wilhelm von Hartel (1839-1907), letzterer seit 1891 Direktor der Wiener Hofbibliothek.

5 Durch den Tod Hartels, der nicht nur ein bedeutender Gelehrter war, sondern auch in zahlreichen Kommissionen saß und ein angesehener Wissenschaftsmanager war.

6 Sog. Schlacht von Kuchelbach (28.6.1881), als tschechische Studenten deutschen Studenten eine Straßenschlacht lieferten.

7 Am 1.10.1905 war deutscher und tschechischer Volkstag in Brünn. Es kam zu „tschechischen Straßenexzessen“ und einem Steinbombardement auf die Technische Hochschule, bei dem Professor Georg Wellner schwer verletzt wurde (so Brünn. Das deutsche Vermächtnis, http://www.brünn-das-deutsche-vermächtnis.eu/BruennDasDeutscheVermaechtnis.pdf, nicht paginiert). Diese Publikation gibt aber falsche Lebensdaten für Wellner an (1864-1910); Professor Georg Wellner, Spezialist für Luftfahrt, lebte von 1846 bis 1909. Sollte es sich um jemand anderen handeln?

8 Camille Pitollet (1874-1964), franz. Hispanist; nicht klar, worauf sich Beer bezieht. In seinem Buch Contributions à l’étude de G. E. Lessing, Paris: Alcan, 1909, wird Beer mehrfach zitiert, mal mehr, mal weniger zustimmend, mal rassistisch: „Le Dr. R. Beer, israélite converti qui a fait son volumineux travail appuyé par toute sorte d’Altesses, à commencer par la reine Marie Christine, et grâce à d’amples Stipendia, n’a pas l’air d’en savoir long personnellement sur Pérez Bayer […]“ (S. 328 Anm. 1). Auch in einem späteren Aufsatz „A propos de ,l’hispanisme allemand‘“, Bulletin hispanique 37, 1935, 489-497 äußert sich Pitollet rassistisch über Beer (489).

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