Alois Pogatscher an Hugo Schuchardt (11-08899)

von Alois Pogatscher

an Hugo Schuchardt

Straßburg

23. 12. 1885

language Deutsch

Schlagwörter: Todesfälle Reflexion über Philologiebegriff Universitätspolitik Verlag Karl J. Trübnerlanguage Langue bleue (Bolak)language Englisch Gröber, Gustav Franz, Wilhelm Seelmann, Emil Sweet, Henry Brink, Bernhard ten Hübschmann, Heinrich Gotha Schuchardt, Hugo (1885)

Zitiervorschlag: Alois Pogatscher an Hugo Schuchardt (11-08899). Straßburg, 23. 12. 1885. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6901, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6901.


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Strassburg 23. December 1885.

Verehrter Herr Professor,

Gestatten Sie mir, Ihnen mein innigstes Beileid über das traurige Ereignis auszusprechen, das Sie so plötzlich nach Gotha geführt hat; der harte Schlag hat Sie wohl um so schwerer getroffen, als Sie durch die grosse Entfernung getrennt, wahrscheinlich nur spät an das Sterbelager Ihres verehrten Vaters eilen konnten.1 Prof. Gröber, der mir auch den traurigen Vorfall mittheilte, sagte mir zugleich, dass Ihre Mutter noch lebe. Möge Sie Ihnen, verehrter Herr Professor, noch lange erhalten bleiben und ihr Leben Ihnen theilweisen Ersatz für den herben Verlust schaffen.

|2| Nur mit Zögern entschliesse ich mich, meinem Schreiben einige Mittheilungen beizufügen, für die Sie jetzt wohl kaum sich interessiren werden. Kürzlich habe ich eine Schrift von Franz (Strassburger Dissertation) gefunden ,Über die lat.-romanischen Elemente im Althochdeutschen‘ (gedruckt 1884),2 in der vieles von dem was ich zu sagen gehabt hätte, vorweg genommen ist; sie ist sehr gut, aber unbegreiflicher Weise stehen da einige Bemerkungen, die mich um so stutziger machen, als Prof. Gröber selbst Franz vielfach mit Rath unterstützte und die Schrift doch auch vor der Approbation durch seine Hand gegangen sein muss. Da steht z.B. p. 21 ,lat. v (z.B. uinum, vinum) erfährt an- und inlautend in den roman. Sprachen keine Veränderung seines Lautwerthes? Nun lässt sich gerade durch die ins Englische aufgenommenen Lehnworte der Beweis für das Gegentheil erbringen; allein auch schon die lat.-rom. Sprachgeschichte für sich fordert die Annahme einer weitgehenden Veränderung vom bilabialen Halbvocale bis zur labio-dentalen Spirans. Seelmann’s Aufstellung bezüglich der Chronologie (p. 231)3 findet ihren genauen Reflex in den Lehnworten im Englischen. Auch gegen Sweet werde ich in Einzelheiten Stellung nehmen müssen.

|3| Ihre Schrift ,Über die Lautgesetze‘ habe ich noch nicht zu Gesicht bekommen;4 ich habe sie bei Trübner bestellt, aber dieser lässt sich immer lange Zeit; Ansichtssendungen kann ich von ihm gar nicht bekommen. ten Brink fragte ich kürzlich darüber, aber er hat sie auch noch nicht gesehn; ich gab ihm Andeutungen über den mutmasslichen Inhalt, soweit ich Ihre Anschauungen aus mündlichen Äusserungen und Vorlesungen kenne, und er billigte sie vollkommen. Mit Gröber habe ich noch nicht gesprochen5 und mit Hübschmann6 habe ich eigentlich keine Verbindung, kann aber seine Meinung durch Gröber erfahren. ten Brink sagte, in der Sprache von Gesetzen zu reden, sei einfach lächerlich, wenn man sich unter Gesetz nicht etwas ganz anderes denke als was das Wort bisher bedeutet habe. Ich selbst sehe der Schrift mit Spannung entgegen, da ich bisher nur zu gerne der Illusion mathematischer Folgerichtigkeit im Sprachleben überlassen habe. Dass alle Erscheinungen Gründe haben, meinte ten Brink, haben wir auch vor den Junggrammatikern gewusst; die Gründe selbst sind sie uns aber schuldig geblieben; was haben Sie also so besonders Wichtiges gethan? Wenn Sie, verehrter Herr Professor, ten Brink direkt oder durch mich ein Exemplar Ihrer Schrift schicken wollten, so hätte ich unmittelbare Veranlassung ihn um seine Meinung über die Schrift selbst zu fragen, die er natürlich aus meinen Mittheilungen nicht kennen kann.7

Wenn die weiteren Auseinandersetzungen über ,Philologie‘ und ihren |4| Betrieb an der Universität eine noch grössere Theilung der Arbeit im Gefolge hätten, so wäre das im Interesse der Sache und ihrer Vertreter nur zu begrüssen. Praktisch besteht die Theilung ja bereits, insofern an die Stelle der Philologen Linguisten und Litterarhistoriker getreten sind, und die lang geübte Gepflogenheit bedürfte nur noch consequenter Durchführung.

Zum Schlusse erlaube ich mir die besten und aufrichtigsten Wünsche für das Neue Jahr beizufügen und zeichne mich mit dem Ausdruck meiner besten Hochachtung

Ergebenst
APogatscher,
Burggasse 8.


1 Schuchardts Vater Ernst Julius, Dr. iur., herzoglicher Notar und Justizart in Gotha, war am 2.12.1885 verstorben.

2 Wilhelm Franz, Die lateinisch-romanischen Elemente im Althochdeutschen, Strassburg: Trübner, 1883 (Phil. Diss.).

3 Emil Seelmann, Die Aussprache des Latein nach physiologisch-historischen Grundsätzen, Heilbronn: Henninger, 1885 (vgl. die gemeinte "Aufstellung" hier).

4 Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker, Berlin: Oppenheim, 1885.

5 Vgl. HSA, PK 055-04053.

6 Vgl. Brief 10-08898.

7 Im HSA ist nur ein Brief ten Brincks aus dem Jahr 1875 überliefert (11589).

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 08899)