Alois Pogatscher an Hugo Schuchardt (10-08898)
von Alois Pogatscher
an Hugo Schuchardt
03. 12. 1885
Deutsch
Schlagwörter: Biographisches Entlehnung Universität Straßburg Universitätspolitik Institutionengeschichte Englisch
Romanische Sprachen Sweet, Henry Brink, Bernhard ten Kluge, Friedrich Gröber, Gustav Martin, Ernst Hübschmann, Heinrich Schönbach, Anton Straßburg
Zitiervorschlag: Alois Pogatscher an Hugo Schuchardt (10-08898). Straßburg, 03. 12. 1885. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6900, abgerufen am 23. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6900.
Strassburg 3. December 1885.
Verehrter Herr Professor,
Verzeihen Sie, dass ich erst heute dazu komme, über mein Leben und Treiben in Strassburg eingehendere Mittheilungen zu machen; ich fühlte mich bisher einigermassen unbehaglich und mochte in dieser Stimmung nicht schreiben. Anfangs schien es mir, als ob ich nicht gut gethan hätte nach Strassburg zu gehen, da die neue Umgebung, besonders die Universität, mich mehr in Anspruch nahm als ich selbst wollte. Ich hatte die Absicht mich einseitig zu beschränken, hielt es aber später doch für rathsam, mir den Ausblick auf Nachbargebiete nicht ganz zu verbauen, und so entschloss ich mich Vorlesungen auch über deutsche und romanische Philologie zu besuchen, die freilich, wenn sie nicht nutzlos sein sollten, ihrerseits wieder private Thätigkeit erforderten. So kam ich zu keiner Befriedigung in meiner Lage, bis ich mich schliesslich doch dafür entschied, ausschliesslich im Englischen zu arbeiten. Und so habe ich denn meine Arbeit, die ich freilich nie ganz liegen liess, wieder ernstlich vorgenommen.1 Aber die Sache ist schwieriger als |2| ich zuerst geglaubt hatte. Dazu habe ich noch neulich den Verdruss erleben müssen zu finden, daß ein Theil des Themas bereits bearbeitet ist, u. zw. von Sweet in seiner Schrift ,Dialect and Prehistoric Forms of English‘ (Trans. Phil. Soc. 1875), die ich zwar dem Namen nach kannte, aber in Graz nicht zu Gesicht bekommen konnte; da ich jedoch nicht ahnen konnte, dass er hierin auf lat. Lehnwörter käme, so unterliess ich sie mir von auswärts zu verschaffen. Hier nun fand ich sie auf der Seminarbibliothek und entdeckte darin einige Capitel meines Gebietes. Ich fand darin allerdings manche meiner Ansichten bestätigt, aber einen Theil der Ergebnisse meiner Untersuchung doch vorweggenommen. Hierauf fragte ich ten Brinck, was er zur Behandlung dieses Themas meinte, und nach einer Anfrage an Kluge, ob nicht schon einer seiner Schüler mit dieser Frage beschäftigt sei, empfahl er es mir zur weiteren Bearbeitung.
Nun habe ich Ernst gemacht. Das Material ist ziemlich weitschichtig herumgestreut, von einzelnen Denkmälern sind aber noch keine entsprechenden Ausgaben vorhanden, mit der angelsächsischen Lexicographie steht es noch schlecht, und ich muss so fast alles aus den Quellen selbst holen. ten Brinck meint, ich solle zugleich die an den Lehnwörtern auftretenden Flexionserscheinungen behandeln, worauf auch die ursprüngliche Sammlung meines Materials angelegt war und dazu die nach griech.- |3| lat. Vorbildern vorgenommene Wortschöpfung einbeziehen. Die Flexionserscheinungen will ich auch bringen, allein die Nachschöpfung ist wenig ergiebig, und ich möchte sie unberücksichtigt lassen.
Ich bin recht fleissig, wenn ich wohl bin, was freilich nicht immer der Fall ist, da ich häufig Kopfschmerzen habe. Von Strassburg sehe und höre ich wenig, ich bin fast immer zu Hause, esse auch zu Hause, und gehe selten aus, ausser in die Collegien.
Für Ihre freundliche Empfehlung an Prof. Gröber habe ich noch bestens zu danken. Neulich (Samstag) war ich Abends bei ihm geladen und fand da verschiedene Professoren der philos. Facultät mit ihren Frauen; es war recht nett, nur waren mir alle völlig fremd bis auf Gröber und ten Brink.2 Auch bei Prof. Martin3 war ich einmal in kleinem Kreise geladen. Die Professoren hier wohnen zumeist nett und bequem, viele in dem neuen Universitätsviertel in stattlichen Villen, so Martin, Hübschmann,4 der erst kürzlich geheiratet hat, Gröber u.s.f.
Hier machen ungewöhnlich viele Leute das Doctorexamen, aber es wird sehr viel gefordert, besonders von Gröber und ten Brink. Es gibt hier fleissige Leute, die bis zu sechs Semestern an ihrer Dissertation arbeiten, und man sagt mir, dass vor zwei oder drei Semestern keiner fertig werden könne; früh eingelieferte Arbeiten |4| werden zumeist zurückgewiesen. Aber eigentümlicher Weise sind gegenwärtig keine besonders tüchtigen Studenten der neueren Philologie da, so viel ich weiss, obwol die Zahl der Hörer ziemlich bedeutend ist. ten Brink hat im litteraturgeschichtlichen Colleg gegen dreissig Hörer, darunter mindestens zwanzig regelmässige. Soeben habe ich Kluges Stammbildungslehre5 erhalten, in der ich viel für meine Arbeit verwenden kann, ich ersehe aber auch daraus, wie viel ich noch zu lernen habe. Auch Gröber’s Colleg über italienische Grammatik hat mir bisher manch wertvolle Bemerkung über das Vulgärlateinische geboten, von dem ich in meiner Arbeit auszugehen habe.
Hoffentlich befinden Sie sich, verehrter Herr Professor, jetzt wol; wir haben angenehmes, aber etwas zu mildes Wetter, der Winter war ja sonst für Ihre Gesundheit immer eine gute Zeit.
Von Prof. Schönbach soll eben der erste Band der altdeutschen Predigten erschienen sein;6Martin hat davon gesprochen. Ich bin begierig das Buch zu sehn.
Prof. Gröber hat mir seine besten Empfehlungen an Sie aufgetragen. Wie mir ten Brink neulich gesagt hat, kommt in nächster Zeit Dr. Joachimsthal als Privadocent nach Strassburg (für engl. Philologie).7
Hoffentlich trifft Sie, verehrter Herr Professor, mein Brief gesund an. Ich bleibe mit dem Ausdruck meiner besonderen Hochachtung
Ihr
dankbar ergebener
A Pogatscher
1 Gem. ist vermutlich die Dissertation, die im franz. Zentralkatalog SUDOC als Teil der Schrift Zur Lautlehre der griechischen, lateinischen und romanischen Lehnworte im Altenglischen (II. Teil [Texte imprimé]: Vokalismus der Tonsilben, Separat-Abdruck aus: Quellen u. Forschungen zur Sprach und Kulturgeschichten der germanischen Völker, Heft 64, 81 S.) ausgewiesen wird. Der I. Teil (Accent und Qualität, S. 1-60 und der III. Teil Konsonantismus, S. 166-205) wären dann wohl als Habilitationsschrift in Graz eingereicht worden. Ganz klar ist dieser Vorgang jedoch nicht!
2 [2] Vgl. Gröbers Postkarte ( HSA 04046) vom 30.11.1885 an Schuchardt: „Herr Prof. Pogatscher ist hier angelangt, hört an der Universität, und arbeitet fleißig auf dem englischen Seminar. Ich konnte ihn neulich mit einer Anzahl Collegen u. deren Frauen in meinem Hause bekannt machen. So weit ich ihm nützlich sein kann, bin ich natürlich zu seiner Verfügung“.
3 Ernst Martin (1851-1910), seit 1877 Germanistikordinarius in Straßburg.
4 Heinrich Hübschmann (1848-1908), seit 1877 Indogermanist in Straßburg.
5 Friedrich Kluge, Nominale Stammbildungslehre der altgermanischen Dialekte, Halle: Niemeyer, 1886 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialecte: B, Ergänzungsreihe; 1).
6 Anton Emanuel Schönbach, Altdeutsche Predigten. 1. Texte, Graz:, Verl.-Buchh. Styria, 1886.
7 Nicht identifziert. Vermutlich liegt ein Irrtum Pogatschers vor.