Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (135-S.263-266)
von Hugo Schuchardt
15. 05. 1881
Deutsch
Schlagwörter: Kaiserliche und Königliche Hof-Bibliothek (Wien) Neue Freie Presse Wiener Allgemeine Zeitung Märchen Irisch Birk, Ernst von Machado y Álvarez, Antonio Rodríguez Marín, Francisco Meyer, Paul Weimar Andalusien Schuchardt, Hugo (1881)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (135-S.263-266). Graz, 15. 05. 1881. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6786, abgerufen am 02. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6786.
Graz 15 Mai 1881
Lieber Freund!
[S. 263-266]
Ich danke Ihnen bestens für die übersandten Bücher und bin sehr erfreut, dieselben in Weimar endlich gefunden zu haben. Mit einer größeren Arbeit über Calderon beschäftigt, bin ich wegen mancher Quellen in großer Verlegenheit. Die Wiener Hofbibliothek ist wenig liberal, man muss dem Hofrath Birk1 alles förmlich entreissen und sie besitzt auch Vieles nicht, nicht nur Dinge, die nach F. Wolff’s2 Tod erschienen sind, sondern merkwürdigerweise auch ältere nicht.
|2| Zu Calderons Jubiläum ist heute gerade von mir ein Feuilleton in der Neuen Freien Presse erschienen;3 hätte ich ein Exemplar, so würde ich es Ihnen schicken, Sie haben ja übrigens dort das Blatt, das trotz der Concurrenz der Wiener Allgemeinen Zeitung (die sich dem Untergang zuneigt), seinen ersten Platz behauptet.
Marx über Poerio werde ich Ihnen zusenden lassen.4
Machados Adresse habe ich verlegt. Ich schreibe ihm immer, da in Sevilla allerdings eine Adresse vonnöthen ist, Cervantes 17 (dem Sitz der Enciclopedia). Ich beschäftige mich gerade, alte Erinnerungen auffrischend, sehr mit den Cantos flamencos.5 Dass diese Sammlungen nicht mit deutscher Akribie und Sachkenntnis ge- |3| macht sind, ist dem begreiflich, der das wissenschaftliche Leben Andalusiens hat kennen lernen; die Poesie spielt der Wissenschaft manchen schlimmen Streich. Alles in Allem genommen, muss ich die Bestrebungen Demófilo’s6 als höchst anerkennswerth bezeichen. Der Cancionero popular von Rodriguez Marin7 lässt mich, was Material anlangt, noch mehr hoffen.
Meyer übersetzt in der That die Bozon‘schen Märchen;8 ich denke einen Verleger wird er nicht unschwer finden. Wenn ich es anständig bezahlt bekäme – also mit anderen Worten, um des schnöden Mammons willen, würde ich mich an kymrische und irischeMärchen, die noch nicht übersetzt sind, machen. Allein schon habe ich zu viel Projekte auf dem Halse und die verwünschten |4| Nerven, die mir bei dem verwünschten Frühlingswetter seit Monaten viel zu schaffen gemacht haben, lassen das Wenigste ausreifen. Ach, Klima von Andalusien!
Hätten Sie mich vor einigen Tagen nach dem Ursprung von tomar las de Villadiego9 gefragt, so hätte ich es noch gewusst, seitdem habe ich es, da es mich nicht besonders interessirte wieder vergessen. Leider weiss ich nicht, wo ich die Erklärung gelesen, ob in Sbarbi’s Refranes10 oder Clemencín’s Kommentar zum Don Quijote11 oder wo sonst. Sobald sie mir wieder unterkommt sollen Sie es wissen.
Demelius hat, wie ich höre, angenommen.
Merken Sie sich, ich bitte, was am Calderontag in Weimar gegeben wurde12 und theilen Sie es mir gelegentlich mit.
Mit herzlichstem Gruss
Ihr
HS.
1 Ernst (von) Birk (1810-1891), seit 1871 Vorstand der Wiener Hofbibliothek.
2 Ferdinand Wolff (1796-1866), bedeutender österr. Romanist, Skriptor an der Kaiserl. Hofbibliothek.
3 "Zu Calderons Jubelfeier“, Neue Freie Presse 15.5.1881, 103-119.
4 Vgl. Schuchardts Brief vom 14.2.1881.
5 Antonio Machado y Álvarez, Poesía popular; post-scriptum á la obra cantos populares españoles de F. R. Marín, Sevilla: Álvarez, 1883.
6 Ps. Antonio Machados.
7 Francisco Rodríguez Marín, Cantos populares españoles, Madrid: Álvarez, 1882, 2 Bde.
8 Nicholas Bozon, anglonormannischer Franziskanermönch (14. Jhdt.); hier ist gemeint Paul Meyer, Les contes moralisés de Nicole Bozon, frère mineur, publ. pour la première fois … par Lucy Toulmin Smith et Paul Meyer, Paris: Firmin Didot, 1889 . Schuchardt hätte eigentlich wissen müssen, dass Paul Meyer keine albanischen Interessen pflegte.
9 Vgl. Brief 05716. – So schon in der Celestina belegt: „huir, salir a escape de algún sitio o desentenderse de una situación a toda prisa, sin ánimo de regresar“.
10 José Maria Sbarbi, El refranero general español: parte recopilado y parte compuesto. Colección de seguidillas o cantares de los más instructivos y selectos: enriquecida con notas y refranes en cada uno, para hacer más fácil su inteligencia, y la lección más fértil y agradable, Madrid: Fuentenebro, 1875.
11 Cipriano Maria Clemencín, Observaciones sobre el comentario del Quijote, 1854.
12 Calderón de la Barca war am 25. Mai 1681 verstorben; es geht also zum seinen 200. Todestag. Aus diesem Anlaß wurde (allerdings erst am 11. Dezember) vom Weimarer Hoftheater von Otto Devrient inszeniert und mit der Ballettmusik von Eduard LassenEl mayor encanto amor aufgeführt.
Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.263)