Reinhold Köhler an Hugo Schuchardt (058-05704)

von Reinhold Köhler

an Hugo Schuchardt

Weimar

22. 11. 1871

language Deutsch

Schlagwörter: Morandi, Luigi Scheffel, Josef Victor von Heyse, Paul Kleist, Carl Nannucci, Vincenzio D´Ancona, Alessandro Richter, Gustav Mussafia, Adolf Preller, Emil Gotha Leipzig Italien Corazzini, Francesco (1871)

Zitiervorschlag: Reinhold Köhler an Hugo Schuchardt (058-05704). Weimar, 22. 11. 1871. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6707, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6707.


|1|

[Weimar, 22.11.1871]

Lieber Freund!

Verzeihen Sie, daß ich auf Ihren Brief vom 16. Octbr. noch nicht geantwortet habe. Es ist, nachdem ich Ihnen die gewünschten Bücher geschickt, den Brief aber aufgehoben hatte, gegangen, wie es oft geht: das einmal hinausgeschobene wurde immer weiter hinausgeschoben, theils aus Zeitmangel, theils aus Trägheit und Trödelei. Dieser Tage aber hätte ich jedenfalls an Sie geschrieben, auch wenn Sie mich nicht von neuem durch einen Brief erfreut hätten. Ich würde geschwankt haben, ob ich den Brief nach Gotha oder Leipzig zu addressieren hätte, denn zu dem Gedanken, daß Sie jetzt noch in Ilmenau sein könnten, hätte ich mich nicht verstiegen. Es geht aus Ihrem letzten Briefe nicht hervor, wie Sie sich befinden, aber da Sie noch in Ilm. sind und von da nach Gotha, nicht nach Leipzig zurückkehren werden, muß ich leider annehmen, daß Sie noch nicht ganz auf dem Zuge sind. Um nun zunächst auf Ihren October-Brief zurückzukommen, so bin ich zwar in Öhrenstock gewesen, um Bergmannslieder zu sammeln,1 weiß aber über den Ort und seine Bewohner nichts Besonderes. Über die „lateinische Race“ habe ich zur Zeit Ihnen nichts mitzutheilen, werde aber Acht haben, wenn mir gelegentlich etwas aufstößt. Es ist jedenfalls sehr dankenswert, wenn dieser Begriff einmal eingehend erörtert wird. Schon von Genf aus schrieben Sie mir einmal, daß diese Frage Sie beschäftige. – Gallucci’s |2| Raccolta und Rossi’s Sard. Gramm. waren schon verkauft – an Sie? – als ich, allerdings etwas spät, darum schrieb.

Was nun Ihres Freundes Morandi Anliegen betrifft, so haben Sie sich nicht an die rechte Schmiede gewandt, wenn Sie mich um Rat fragen, denn meine Kenntnisse der neuen und neuesten schönendeutschen Litteratur sind sehr, sehr lückenhaft. Wenn ich aber durchaus raten soll, so billige ich zunächst Ihren Vorschlag wegen Scheffel und Heyse. Außerdem möchte ich Sie aber auch auf Göthe’s, H. v. Kleist’s und Tieck’s Novellen hinweisen. Göthe’s Novellen sind gewiss noch unübersetzt, ob sie aber gefallen? Einige Novellen von Kleist (besonders das Erdbeben von Chile und die Verlobung auf S. Domingo)2 und Tieck, z.B. Dichters Tod, des Lebens Überfluß, Hexensabbath, würden gewiss sich eignen. Machen Sie doch Ihren Freund auf den von P. Heyse und H. Kurz hgg. „Deutschen Novellenschatz“, in dem die besten deutschen Novellen neu herausgegeben werden sollen und von dem schon einige Bände (à Band 15 sqq.)3 erschienen sind, aufmerksam.

Von Nannucci besitzen wir bis jetzt nur das Manuale.

D’Ancona hat mir vor einigen Wochen einen sehr kargen, aber sehr vergnügten Brief geschrieben und die Photographie seiner ,sposa carissima‘, sowie sämmtliche Publicationen ,per le nozze D’Ancona-Nissim‘ – über 20 an der Zahl4 – geschickt. Ich bedaure fast, daß ich nicht auch – vielleicht im Verein mit Ihnen – eine kleine Publicazion veranstaltet habe. Irgend ein kleiner Stoff würde sich wohl gefunden haben auch eine transmontane Schrift „per le nozze DA-N“ wäre doch was ganz besonderes gewesen. Die Photographie der jungen Frau zeigte, daß unser Freund keinen üblen Geschmack hat.

|3| Ihren Freund Richter sehe ich sehr selten. Er war in den Sommerferien auch ein paar Wochen länger mit seiner Frau in Reichenhall.

Mussafia hat mir einmal ein paar Zeilen geschrieben.5 Er hat 7 Wochen lang mit seiner Frau Nord- und Mittelitalien bereist. Ob auch zu wissenschaftlichen Zwecken, schreibt er nicht, doch ist dies bei ihm wohl kaum zu bezweifeln.

Doch ich muß für heute schließen! Lassen Sie bald aus Gotha etwas von sich hören oder besser kommen Sie einmal herüber! Wenn Sie mit Ilmenauer Bekannten von mir, z. B. Dr. Preller,6 zusammen kommen, so grüßen Sie sie.

Mit besten Grüßen

Ihr

Reinhold Köhler.

Weimar, 22 Nov, 1871


1 Reinhold Köhler, Alte Bergmannslieder, Weimar: Boehlau, 1858 , vi: „Einen Theil der mitgetheilten Lieder habe ich während eines mehrwöchigen Aufenthales in Ilmenau im Sommer 1855 gesammelt. Und zwar habe ich mehrere dieser Lieder von Bergleuten aus den unweit Ilmenau gelegenen, nur durch die Ilm getrennten Dörfern Kammerberg und Manebach, von denen jenes weimarisch, dieses gothaisch ist, singen hören“.

2 Gemeint ist das „Erdbeben in Chili“ bzw. „Die Verlobung in St. Domingo“.

3 München: Oldenbourg.

4 Vgl. Schuchardts Brief vom 30.8.1871. Die Zahl von über zwanzig Nuptialia aus diesem Anlass ist sehr hoch. Der italienische Nationalkatalog weist insgesamt elf nach.

5 Weimar, GSA 109/554 weist dreißig Briefe Mussafias an Köhler aus den Jahren 1862-90 nach.

6 Vgl. Schuchardts Brief vom 21.8.1871.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 05704)