Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (056-S.113-116)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Ilmenau

16. 10. 1871

language Deutsch

Schlagwörter: Romanische Studien Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung (Kuhns Zeitschrift) Königlich Bayerische Hof- und Staatsbibliothek (München) Literarisches Zentralblatt für Deutschlandlanguage Albanischlanguage Italienische Dialektelanguage Toskanische Dialektelanguage Romanische Sprachen Miklosich, Franz von Mussafia, Adolf Schuchardt, Hugo (1872) Schuchardt, Hugo (1871)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (056-S.113-116). Ilmenau, 16. 10. 1871. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6705, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6705.


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Ilmenau 16 Okt. 71


Lieber Freund!

[S. 113-116]

Da Sie nicht zu mir kommen, so werde ich wiederum einmal – in effigie litterarum – Sie besuchen und in gewohnter Art mit allerlei Fragen überschütten, was Sie mir so gänzlich, auch wissenschaftlich Abgeschiedenen nicht verdenken mögen. Nur letztlich in meinen Unterhaltungen mit Opitz aus Naumburg1 klang die Stimme der Wissenschaft einmal aus der Aussenwelt zu mir herüber. – Das Ilmenauische steht meiner heimischen Mundart zu nah, um mich zum Studium anzuregen; nur die Ausdrücke Tómmockeln und Múckelkī für Tannenzapfen waren mir neu. Hingegen wird mir Wesen und Sprache der Bewohner von Oehrenstock (1 St. von Ilmenau)2 als fremdartig geschildert; Major Fils spricht auch von ihrer Vorliebe für theatralische Vorstellungen.3 Ich war neulich während der Kirmse,4 bemerkte muntre und |2| derbe Leute mit großen Nasen, aber Nichts Auffälliges. Ist Ihnen Besonderes über Öhrenstock, das Sie doch gewiss besucht haben, bewusst? In den Gegenden, wo viel Bergbau getrieben wird, findet man ja oft Einwanderungen. – Neulich begegnete mir in der Gartenlaube (Jahrg. 1858) ein Ausdruck, der dem mir von Ihnen mitgetheilten „seine Seele barfuss laufen lassen“ grosse Verwandtschaft hat; ich denke, es war „den Teufel barf. lauf. s.“, doch habe ich die Stelle, die entweder auf Ludw. Storch5 sich bezog oder von ihm war, durchaus nicht wieder finden können. – In einem Aufsatz über Alban(es)isches und Romanisches, der im 4ten Heft von Kuhn’s Zeitschrift erscheint, habe ich das von Miklosich als dunkel bezeichnete Wort Brinsenkäse, welches ich, bei allerdings sehr beeiltem Nachsuchen, nirgends habe aufspüren können, ebenso wie das mundartl.-it.Sbrinz von Brienz hergeleitet;6 verdient etwa diese Raschheit eine Berichtigung?

Könnten Sie mir nicht, behufs einer gewissen lautlichen Untersuchung (über uo und ie), einige der ältesten Denkmäler der it. Schriftsprache oder vielmehr des Toskanischen (Solches, was vom Heutigen möglichst abweicht) hierher schicken? Etwa |3| die Poeti del Primo Secolo7 und etwas aus der „Raccolta Bolognese“?8 – Vor einigen Tagen bekam ich den Antiquarkatalog von Kirchhoff und Wigand zugeschickt;9 ich halte die Preise für entsetzlich hoch, die Linguistica scheinen immer theurer zu werden? Haben Sie etwa, was wohl nicht der Fall ist, Gallucci, Raccolta di poesie in dialetto calabro10 und Rossi’s Sard. Grammatik11 schon in Besitz oder bestellt? Sonst lasse ich mir sie kommen.  –

Es versucht mich, nächstens einmal den Begriff der „lateinischen Race“, den so vielfach umstrittenen, ausführlich zu erörtern, da ich Betrachtungen dieser Art mich mit Vorliebe hingegeben habe. Würden Sie nicht vielleicht die Güte haben, wo Ihnen gelegentlich in laufenden oder verflossenen Zeitungen und Zeitschriften verwendbares Material (über die engere oder weitere Beziehung der romanischen Völker zueinander in Physischem, Charakter, Religion, Politik) aufstiesse, für mich die Stellen aufzuzeichnen? Äusserste Armuth treibt zur unverschämten Bettelei. Noch Eines; ist wohl seit Ende Juli im Lit. Centralblatt eine von mir |4| eingesandte Recension von Mussafias Romagn. Dial. abgedruckt?12 Doch genug, damit Sie nicht glauben, meine Fragen fänden nur mit dem Papier ihr Ende.

Es glänzt jetzt eine milde Oktobersonne auf uns herab; auch Ihnen gönnte ich einen dieser schönen Tage – am Walde.

Grüssen Sie Richter bestens und seien Sie selbst herzlichst gegrüsst

von Ihrem

H. Schuchardt


1 Emil Karl Opitz († 1882 Alpach b. Luzern), seit 1848 Lehrer am Dom-Gymnasium zu Naumburg, Latinist ( Kössler, Personenlexikon).

2 Heute Ortsteil von Ilmenau.

3 Major A. W. Fils, Bad Ilmenau und seine Umgegend, am Thüringer Walde. Ein Führer und Gedenkbuch für Einheimische und Fremde, Ilmenau 1873.

4 Meist „Kirmes“.

5 Ludwig Storch (1803-1881), aus Thüringen stammender Dichter und Schriftsteller.

6 Schuchardt, „Albanisches und Romanisches“, Zeitschrift für vergleichende Sprachforschung auf dem Gebiete des Deutschen, Griechischen und Lateinischen 20, 1872, 241-302; hier nicht gefunden.

7 Lodovico Valeriani, Poeti del primo secolo della lingua italiana, Florenz 1816.

8 Möglicherweise Raccolta di componimenti in dialetto bolognese, Bologna: presso Antonio Chierici, 1840.

9 Um welchen Katalog es sich handelt, konnte nicht festgestellt werden. Die BSB München hat zahlreiche dieser Kataloge digitalisiert. Vom Januar 1871 gibt es einen Katalog N°. 293, der S. 65f. Abschnitte für die wichtigen romanischen Sprachen enthält. Allerdings ist die Serie der Kataloge nicht vollzählig; es fehlt z. B. N° 295.

10 Luigi Gallucci, Raccolta di poesie in dialetto calabro, Cosenza: Tipografia di Giuseppe Migliaccio, 1849.

11 Giuanni Rossi, Elementus de gramatica de su dialettu sardu meridionali e de sa lingua italiana de su saçerdotu Giuanni Rossi aumentaus e rifundius in grandu parti po usu de is nazionalis e de is furisteri, Casteddu; Stamperia de A. Timon, 1864.

12 Schuchardt, Rez. von „A. Mussafia, Darstellung der romagnolischen Mundart“, Literarisches Zentralblatt 22, 1871, 1063-1065.

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.113)