Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (039-S.81-84)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Gotha

29. 03. 1870

language Deutsch

Schlagwörter: Märchenlanguage Italienisch Wolf, Ferdinand Leipzig Rom

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (039-S.81-84). Gotha, 29. 03. 1870. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6688, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6688.


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Gotha 29/3 70


Lieber Freund!

[S. 81-84]

Anbei sende ich Ihnen das Tiroler Idiotikon zurück; die anderen verliehenen Bücher werden insgesammt bald nachfolgen, vielleicht bringe ich sie selbst, wenn ich nach Leipzig reise. Ich muß um so mehr um Entschuldigung bitten, daß ich sie noch nicht zurückgestellt habe, als ich, verschiedentlich verhindert, seit geraumer Zeit gar nicht an die Arbeit, zu welcher sie mir nöthig sind, gekommen bin. Unter diesen Hindernissen figuriren die Vergnügungen ja so stark, von deren letzter, herzoglicher Theatervorstellung mit vorausgegangenen vielen und langen Proben, ich mich kaum erholt habe.

Meine Habilitation ist bis auf die Probevorlesung, die Ende nächsten Monats stattfin- |2| soll, erledigt; ich werde dann sofort und zwar italienische Grammatik ankündigen. Die Wahl dreier oder mehrerer Themata zu dieser Antrittsvorlesung, unter welchen mir dann eines 6 Tage vorher bezeichnet wird, habe ich noch nicht getroffen; ich bin etwas in Verlegenheit, da ich doch bei dieser Gelegenheit mich möglichst im Allgemeinen halten möchte. Auch der Druck meiner Habilitationsschrift (über gewisse Lauterscheinungen im Churwälschen) macht mir Sorge, da ich sehe, daß ich ihn ganz auf meine Kosten nehmen muß.

Die meisten der Märchen erzählten mir die weiblichen Mitglieder der Bürgerfamilie, bei der ich in Rom wohnte; andere ein junger Maler, der sie von seiner Aufwärterin gehört hatte. Es wäre vielleicht gut gewesen, sie italienisch niederzuschreiben, aber wenn man nicht stenographirt, kann man starke Verstöße gegen den Volkston begehen. Wie mag wohl Grimm1 die von Ihnen im 8ten Jahrbuch mitgetheilten Märchen aufgezeichnet haben? Beiläufig gesagt, kommen mir darin einige Formen |3| sehr bedenklich vor, wie colle fucili S. 241 für co li fucili, andai S. 247 für andette oder andava; marchia für macchia Buschwald würde ich wie scortivava S. 237 und dovo S. 250 für Druckfehler ansehen, wenn es sich nicht wiederholte.

Wenn Sie aus meinem Geschmiere mit untermengten italienischen Wörtern klug geworden sind, so bewundere ich Sie. Vor kurzem las ich in der Europa2 unter Oldenburger Eulenspiegelgeschichten eine, die sehr an eines meiner Märchen erinnerte: Ich werde an einen meiner römischen Freunde schreiben und ihn bitten, weitere Märchen zu sammeln.

Haben Sie eine Idee, ob auch in Spanien das sog. libro dell’arte, Glücksbuch, wonach man in das Lotto setzt, bekannt ist?3Ferdinand Wolf scheint mir Jahrbuch I, 287 „90=Grossvater“ irrthümlich als einen individuellen Scherz aufgefaßt zu haben.4 Ich betheiligte mich einst in Rom an einer kleinen Tombola (unser Lotto) und der Ausrufer nannte oft statt der Zahlen Namen, deren numerische Bedeutung aus dem Glückbuch Jedem bekannt war.

Mit herzlichstem Gruß

der Ihrige

H. Schuchardt


1 Hermann Grimm; vgl. HSA 05695. – Weiterhin Köhler, „Italienische Volksmärchen“, Jb. f. rom. u. engl. Litteratur 8, 1867, 241-270.

2 Europa. Chronik der gebildeten Welt.

3 Vgl. z.B. Nuevo libro de los destinos o verdadero ruedo de la fortuna:con una completa explicación de los sueños y la indicación de los números que corresponde jugar á la lotería según el sueño: / por el professor mágico hebrácio G. J. K. M. A, Buenos Aires: Rolleri, 1884.

4 Wolf, „Ueber den realistischen Roman Spaniens“, Jb. f. rom. u. engl. Litteratur 1, 1859, 287 Anm. 1: „In einem der folgenden Kapitel wird sehr ergötzlich beschreben, wie D. Galo dem Lotteriespiele in den Gesellschaften der Marquesa vorzustehen wußte. So bezeichnete er z. B. jede Nummer, die er zog, mit einem spaßhaften, durch ihn in der Gesellschaft üblich gewordenen Namen, wie statt zu sagen: 90, rief er ,der Großvater‘“.

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.81)