Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (025-S.57-58)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Rom

19. 01. 1869

language Deutsch

Schlagwörter: Fernow, Hans Eduard D´Ancona, Alessandro Bartsch, Karl Friedrich Ascoli, Graziadio Isaia Ebert, Adolf Rom Bologna Leipzig Gotha Schuchardt, Hugo (1868)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (025-S.57-58). Rom, 19. 01. 1869. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6675, abgerufen am 18. 04. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6675.


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Rom 19 Genn. 69.1

[S. 57-58]

Verzeihen Sie, verehrter Freund, daß ich auf einem abgerissenen Blatt Ihnen den Dank für Ihren liebenswürdigen Brief zukommen lasse. Er enthält sehr erwünschte Nachrichten für mich, besonders die von dem Vorhandensein jener romanischen Dichtung in der Weim. Bibliothek. Befinden sich denn auch die anderen Bücher Fernows, die der italienischen Dialektlitteratur angehören, (sie sind in seiner Bibliographie mit einem Stern bezeichnet) daselbst, besonders die Kom. La finta Cameriera2 und die Raccolta di vocaboli Romaneschi e Marchigiani?3Ich habe dieselben in Rom nicht auftreiben können, wie es denn überhaupt sehr schwierig ist, sich hier das nöthige Material zu linguistischen Studien, und wenn dieselben sich auch auf italienische oder sogar den römischen Dialekt beziehen, zu verschaffen. – Märchen hoffe ich doch noch aufzutreiben; es wird auch einige Umschweife und Sonderbarkeiten kosten. „Hänschen, der das Gruseln lernen will“, existirt unter dem Namen „Giovanni senza paura“ fast in gleicher Gestalt. Es würde einen hübschen Anhang zu meiner Arbeit über den römischen Dialekt abgeben, in welche ich überhaupt möglichst viel über Sitten, Spiele4 u. s. w. einzuweben gedenke. Denn in dieser Mundart sind nicht sowohl die lautlichen Erscheinungen, als die Bilder und die Ausdrucksweise überhaupt interessant. –  Volksbücher begann ich im vorigen Winter zu sammeln; gab es aber wieder auf, weil alle zu kaufen, mir etwas zu kostspielig schien, die Auswahl aber schwer zu treffen war. Denn die meisten sind Heiligen, oder  moderne Räubergeschichten (wie von Pepe Mastrillo).5 Übrigens ist der größere Theil auch von denen die man in Rom ausgehängt sieht, in Lucca gedruckt oder vielmehr sind es römische Nachdrucke Luccheser Texte, und d’Ancona bot mir damals schon an, mir Lucchesische Drucke in reicher Menge zu vermitteln. Er selbst besitzt eine sehr schöne Volksbüchersammlung in 20 oder 30 Bänden. Übrigens will ich doch Ihre |2| Mahnung beherzigen, diesem Gegenstand noch meine volle Aufmerksamkeit zu zu[zu]wenden. – Die Novelluzze ed esempi morali6 sind, wie ich schon an der ,Tipografia al Sole‘7, dergleichen nie in Rom existirt hat, ersah nicht in Rom, sondern in Bologna gedruckt. Bei meiner Durchreise durch Bologna will ich sehen, ob ich sie bekommen kann. Es sollen aber moderne Kindergeschichten sein. – Nach langen vielfach vergeblichen Bemühungen, die schon im vorigen Winter begannen, habe ich seit wenigen Tagen auf der Vatikana das Studium verschiedener italienischer Hdss. beginnen können. Ich muß noch sehr leise und vorsichtig auftreten und darf jetzt, da ich keinen Permeß für altfranz. Hdss. besitze, nicht wagen, nach einem Griseldisroman zu fragen. Wenn Bartsch, der freilich, bei der äußerst beschränkten Arbeitszeit, noch vollauf mit seinen provenzalischen Sachen beschäftigt ist, so wird er sicher Ihrem Wunsch nachkommen. Auch ihm hat man zuerst Schwierigkeiten bereitet. Was in meinen Kräften steht, soll geschehen. Daß die zweite der Hdss. in Prosa ist, ersehen Sie aus Kellers Romvart.8 – So eben erhalte ich einen Brief von Ascoli, 9der beiläufig mit meiner Ansicht über slipe slape (der Römer sagt zuweilen o sni o snaentweder oder; und ich bringe dies mit seinem in Zusammenhang) nicht einverstanden zu sein scheint. Er geht damit um, eine Zeitschrift unter dem Titel: Archivio di glottologia italiana, zu gründen, die mit dem Februar des nächsten Jahres erscheinen wird, und er hat mich zur Mitarbeit aufgefordert. – Bartsch10 sprach mir davon, daß Ebert11 in Leipzig sich Einen zur Seite wünscht, der den grammatikalischen Theil der Vorlesungen übernähme und wollte in meinem Interesse an ihn schreiben. – Wenn Sie fernere Wünsche haben, so stehe ich immer zu Diensten (obgleich ich Ihre bisherigen noch nicht habe erledigen können); Sie brauchen die einzelnen Anfragen nur auf einen Zettel zu schreiben und, da Sie wohl mit Bartsch in Correspondenz stehen,12 nach Gotha gelangen zu lassen. Mit kalten Händen (denn wir haben jetzt eine ganz anständige Kälte), aber warmem Herzen

Ihr ergebener

Hugo Schuchardt


1 Am Rand: „Die Absendung des Briefes hat sich bis zum 30 Jan. verspätet“.

2 Gaetano Latilla, La finta Cameriera, Venetia 1743 .

3 Kein Bibliotheksnachweis.

4 Schuchardt, „Das Ballspiel in Rom“, Globus. Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde 14, 1868, 73-75.

5 Bekannter Räuberhauptmann, in Balladen und Erzählungen gefeiert.

6 Bernardino da Siena, Novellette, esempi morali e apologhi, Bologna: Romagnoli, 1868.

7 Druckerei u. Verlag in Bologna.

8 Adelbert Keller, Romvart. Beiträge zur Kunde mittelalterlicher Dichtung aus Italienischen Bibliotheken, Mannheim: Bassermann, 1844, 337 u. bes. 367 (Pergamenths.; klein, fol.; 4 spalten auf dem blatte. Anfang fehlt. 15. jh.).

9 Vgl. Briefe HSA 00201 u. Schuchardts Antwort vom 11.2.1869 (003-B37_61).

10 Karl Friedrich Bartsch (1832-1888), vgl. HSA 00551-00554.

11 Adolf Ebert(1820-1890), vgl. HSA 02677-02679, bes. Brief 02678.

12 Weimar, GSA 109/63 (42 Stücke, 1866-1888).

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.57)