Reinhold Köhler an Hugo Schuchardt (024-05695) Reinhold Köhler Frank-Rutger Hausmann Institut für Sprachwissenschaft, Karl-Franzens-Universität Graz Zentrum für Informationsmodellierung - Austrian Centre for Digital Humanities, Karl-Franzens-Universität Graz GAMS - Geisteswissenschaftliches Asset Management System Creative Commons BY-NC 4.0 2022 Graz o:hsa.letter.6673 024-05695 Hugo Schuchardt Archiv Herausgeber Bernhard Hurch Karl-Franzens-Universität Graz Österreich Steiermark Graz Karl-Franzens-Universität Graz Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen 05695 Reinhold Köhler Papier Brief 4 Seiten Weimar 1868-12-31 Hugo Schuchardts wissenschaftlicher Nachlass (Bibliothek, Werkmanuskripte und wissenschaftliche Korrespondenz) kam nach seinem Tod 1927 laut Verfügung in seinem Testament als Geschenk an die UB Graz. Frank-Rutger Hausmann 2019 Die Korrespondenz zwischen Reinhold Köhler und Hugo Schuchardt Hugo Schuchardt Archiv Bernhard Hurch

Die Datenmodellierung orientiert sich am DTA-Basisformat, ediarum und der CorrespDesc-SIG.

Das auf DTABf-Modellierungsschema wurde für die Zwecke des Projektes angepasst und befindet sich unter

Hugo Schuchardt Archiv

Das Hugo Schuchardt Archiv widmet sich der Aufarbeitung des Gesamtwerks und des Nachlasses von Hugo Schuchardt (1842-1927). Die Onlinepräsentation stellt alle Schriften sowie eine umfangreiche Sekundärbibliografie zur Verfügung. Die Bearbeitung des Nachlasses legt besonderes Augenmerk auf die Erschließung der Korrespondenz, die zu großen Teilen bereits ediert vorliegt, und der Werkmanuskripte.

Rollen-Taxonomie

Datumstaxonomie

Thesaurustaxonomie

Reinhold Köhler Weimar 1868-12-31 Hugo Schuchardt Germany Weimar Weimar 11.32903,50.9803 Korrespondenz Reinhold Köhler - Hugo Schuchardt Korrespondenz Großherzogliche Bibliothek Weimar Italienischsprachige Literatur Académie française Sizilianische Dialekte Wissenschaft Sprachwissenschaft Brief Deutsch
Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/
[Weimar, 31.12.1868] Lieber Herr Doctor!

Mit Ihrem interessanten Briefe haben Sie mir eine rechte Freude gemacht und ich danke Ihnen herzlichst dafür. Ich hatte schon lange gewünscht, wieder einmal etwas von Ihnen zu hören. Ich freue mich, daß Sie sich nun entschlossen haben, ganz Romanist zu werden. Alterthums- und Kunstforscher reisen jahr aus, jahr ein so viele nach Italien und nach Rom, aber wie selten sind die, welche die Sprache und die Sitten etc. der heutigen Italiener wissenschaftl., nicht blos touristisch zu erkundigen sich vorsetzen. Also Glück auf dabei!

Um gleich Ihrer Bitte wegen Miccheli Vgl. Schuchardts Brief vom 18.12.1868. zu genügen, so kann ich Ihnen die erfreuliche Nachricht geben, daß seine Handschriftliche Poesie und seine handschr. Libertà Romana aus Fernows Nachlaß in die hiesige Grßh. Bibliothek übergegangen sind. Die beiden Hss. stehen Ihnen nach Ihrer Rückkehr nach Deutschland jederzeit zu Diensten (+ Natürlich bin ich auch, wenn Sie deren noch in Italien bedürftig sind, gern zu Mittheilungen über und aus den Hss. gern bereit). Unsre Bibliothek besitzt auch aus Fernows Bibliothek viele gedruckte mundartliche italienische Werke, so z. B. die von ihm erwähnten römischen Dichtungen Il maggio romanesco und Il Meo Patacco. Auch Abbattutis (Basiles) Pentamerone besitzen wir in mehreren Ausgaben. Ich selbst besitze ihn in der Ausgabe von 1788 (Neapel) und in Felix Liebrechts trefflicher deutscher Übersetzung und benutze ihn bei meinen Märchenstudien Köhler, Aufsätze über Märchen und Volkslied, Berlin: Weidmann, 1894 . unablässig.

Daß in Rom selbst Märchen kaum vorkommen mögen, glaube ich gern. Dagegen müssen im Gebirge wol noch viele existiren u. die nach Rom kommenden Modelle dürften oft auch Quellen sein. So hat mir Hermann Grimm Hermann Grimm (1828-1901), Sohn von Wilhelm Grimm, Kunsthistoriker (Nachfolger Wölfflins) und Goethe-Forscher. einige mitgetheilt, die ihm ein männliches Modell aus Sora (Neapel) in Rom erzählt hatte, u. ich habe sie in Lemckes Jahrbuch herausgegeben. Köhler, „Italienische Volksmärchen“, Jb. f. rom. u. engl. Literatur 8, 1865, 241-270 . Dort heißt es im Vorwort: „Die nachstehenden drei italienischen Volksmärchen verdanke ich der freundlichen Mittheilung des Herrn Dr. Hermann Grimm in Berlin. Ein siebzehnjähriger, sehr schöner junger Mensch aus der Gegend von Sora im Neapolitanischen, welcher den Malern in Rom als Modell diente, hat sie ihm im Februar 1862 in Rom erzählt“. Im Augenblick habe ich eine Menge sicilischer, zum Theil sehr anziehender Märchen in Händen, die eine in Messina geborene Deutsche für Dr. Hartwig in Marburg Otto Hartwig (1830-1903), Bibliothekar und Historiker zunächst in Marburg, später in Halle. gesammelt u. in deutsche Sprache – mit gelegentlicher Angabe einzelner Stellen in sicilischer Mundart – aufgezeichnet hat. Die Märchen werden demnächst mit Anmerkungen von mir erscheinen. Sicilianische Märchen. Aus dem Volksmund gesammelt, mit Anmerkungen Reinhold Köhler’s und einer Einleitung hrsg. von Otto Hartwig, 2 Teile, Leipzig: Engelmann 1870. – Die Märchenerzählerin war die in Messina geb. Schweizerin Laura Gonzenbach, verh. La Racine (1842-1878). Sammeln Sie doch in Rom was Sie von Volksbüchern, Storie popolari u. dgl. auftreiben können. Ich selbst besitze durch Tezas Emilio Teza, vgl Brief 05694. In Weimar, GSA 109/782 gibt es im NL Köhlers 54 Briefe aus den Jahren 1864-88 an ihn. Freundlichkeit und durch Erwerb bei deutschen Antiquaren und aus Auctionen eine hübsche Anzahl, meist Drucke aus diesem Jhrh. aus Bologna und Todi, auch aus Venezia, Milano, Lucca, Bassano, Foligno. Römische Drucke habe ich gar nicht.

Wilhelm Müller, Ludwig Wilhem Müller (1794-1832), deutscher Dichter, dessen Gedichte z. T. von Franz Schubert vertont wurden. Die Geschichte von Don Alonso findet sich bei Wilhelm Müller, „Debora“, in: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. Paul Heyse u. Hermann Kurz, Bd. 218, Berlin 1910, 1-148, hier 58f . der sich für römisches u. ital. Leben u. Sprache sehr interessierte wie sein Buch „Rom u. die Römer“ und seine Volksliedersammlung „Egeria“ beweist, hat in seiner schönen Novelle „Debora“ ein römisches Volksgedicht aus den ersten Jahrzehnten dieses Jhrh. erwähnt, worin in die Ottaven – fast alle ital. Volksbücher sind in Ottaven – die Geschichte eines jungen Spaniers Don Alonso de Floridias erzählt ist, der eine Jüdin im römischen Ghetto bekehrt hatte u. von den Juden ermordet wurde. Sollte dies Gedicht, welches schwerl. eine Fiction Müllers ist, nicht noch aufzutreiben sein?Quelle nicht nachgewiesen. Könnten Sie mir vielleicht auch verschaffen

Novelluzze ed Esempli morali, Thoma topografia al Sole 1861? Francesco Saverio Zambrini, Novelluzze ed esempli morali con una notevole pistola; tratta dal Cod. Vaticano N. 1860; testi inediti del buon secolo, pubbl. per cura di F. D. V., Roma 1861.

Noch ein Anliegen, auf das ich erst dieser Tage gekommen bin. Ich habe übernommen für die Encyclpädie von Ersch und Gruber bis um 1. März einen eingehenden Artikel über Griseldis zu liefern. Köhler, „Griselda (Griseldis)“, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Hrsg. von Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber. Band: Sect. A-G; Sec. 1, Th. 91, Leipzig1871, 413-421 ; wieder abgedr. als Nr 66a in: Köhler, Kleinere Schriften 2. Band: Zur erzählenden Dichtung des Mittelalters, Berlin: Emil Felber, 1900, 501-545. Nun ist in Greiths Spicilegium Vaticanum Carl Johann Greith, Spicilegium Vaticanum. Beiträge zur näheren Kenntnis der Vatikanischen Bibliothek für Deutsche Poesie des Mittelalters, Frauenfeld: Ch. Beyel, 1838. S. 85 verzeichnet

LIII. Grisilidis Romancium gallicum. Chr. 1514.

LIV. Grisilidis Romancium gallicum. Chr. 1519.Vgl. Ernest Langlois, „Notices des manuscrits français et provençaux de Rome antérieurs au XVIe siècle“, Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque nationale et autres bibliothèques, 33:2, 1889, 1-347, hier 184-1875.

Es wäre mir sehr lieb, wenn ich durch Sie oder durch Bartsch, den ich herzlich zu grüßen bitte, etwas über beide Handschriften erfahren würde. Sind es Gedichte oder Prosa? Wie verhalten sie sich zueinander und zu Boccaccios bekannter Novelle?

Daß Ihr Snip Snap Sn. gedruckt ist, wissen Sie vielleicht? Neulich hatte der Verleger einen Wechsel für das Honorar an eine hiesige Buchhandlung geschickt, damit ich es für Sie in Empfang nehmen sollte, ich habe aber der Buchhandlung die Weisung gegeben, den Wechsel an Ihren Hr. Vater zu schicken. Vgl. Schuchardts Brief Gotha, 16.3.67.

Den 3 ten Band Ihres Werkes Schuchardt, Vokalismus des Vulgärlateins III, 1868 . habe ich zugeschickt erhalten – wol durch Ihren Vater – und danke Ihnen herzlich. Lassen Sie nur die classischen Philologen im einzelnen daran mäkeln! Sie haben doch die Ehre und das Verdienst zum erstenmal ein eingehendes Werk über den Gegenstand geschrieben zu haben, Sie können sich rühmen, der Wissenschaft in fruchtbarster Weise gedient zu haben. Und obendrein wer kann sich gleich Ihnen auf ein dreibändiges Erstlingswerk berufen? Hat doch auch die franz. Akademie Ihr Buch gerühmt und muss doch auch Corssen in seiner neuen Ausgabe Paul Wilhem Corssen, Über Aussprache, Vokalismus und Betonung der lateinischen Sprache I, Leipzig 1868, XI : „Die reichen und fleissigen Sammlungen von Schreibweisen spätlateinischer Schriftstücke in dem Buche von H. Schuchardt: der Vokalismus des Vulgärlateins, als dessen ersten Zweck der Verfasser das Zusammentragen und Aufschichten von Bausteinen angiebt, erkenne ich als verdienstlich sowohl für die Sprachforschung als für handschriftliche Kritik vollkommen an, und hebe ausdrücklich hervor, dass sie mir für die Berichtigung und Erweiterung meiner Ansichten über die spätlateinische Volkssprache von wesentlichem Nutzen gewesen sind. Aber ich habe dieselben mit grosser Vorsicht benutzt, da ich die Ueberzeugung hege, dass sich unter den von Schuchardt aufgeschichteten Bausteinen viel mehr untaugliches Gerüll befindet, als er selbst anzunehmen geneigt ist, dass hier neben ächten Sprachformen der spätlateinischen Volkssprache Massen von Schreibfehlern angehäuft sind aus den Zeiten verwilderten Lateinischen und Griechischen Orthographie in der Hand von Ungebildeten und Halbgebildeten, nachdem im vierten und fünften Jahrhundert nach Christus der Vokalismus der Lateinischen und der Griechischen Sprache bis zur Lautgestaltung der Romanischen Sprachen und des Neugriechischen entartet war, und nun Schreibweisen nach der neueren Aussprache mit der Rechtschreibung nach der älteren Aussprache oder nach der Etymologie der Wortformen in wüstem Wirrwarr durcheinander gemengt wurden“ usw. anerkennen, was er Ihnen schuldet. Mag also Ritschl indirect mäklen,Vgl. Ritschls säuerlichen Brief vom 19.3.1866 (HSA 2-09670). es wird ihm auf die Dauer doch nichts helfen.

Ich halte die Aussichten für Romanisten keineswegs für schlecht. Sie müssen sich aber auch noch auf das Englische legen, denn wol an den meisten Univer- sitäten ist nur eine Professur für roman. u. engl. Sprachen u. Litt.

Von mir habe ich Ihnen nichts besonderes mitzutheilen. Ich bin dies ganze Jahr fast gar nicht aus Weimar weggekommen, nur die Würzburger Philologenversammlung habe ich besucht.Vgl. Verhandlungen der sechsundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Würzburg vom 30. September bis 3. October 1868, Leipzig 1869. Leider fehlten dort manche, auf die ich gehofft hatte, so Mussafia, Bartsch, Lemcke. Übrigens war aber auch diese Versammlung angenehm und anregend. Auf der Rückreise habe ich auch einen Nachmittag in Gotha in Pertsch Wilhelm Pertsch (1832-1899), Orientalist u. Bibiothekar in Gotha. Gesellschaft zugebracht, der mir von Ihnen keine nähere Nachricht zu geben wußte. Von Coburg bis Eisenach fuhr ich mit Ihrem Freund Richter Gustav Richter (1838-1904), Historiker, Gymnasiallehrer in Posen, Schulpforta und Weimar; Kommilitone Schuchardts aus Bonner Tagen. aus Pforta. Sie wissen vielleicht noch nicht, daß Richter Ostern hierher an unser Gymnasium kömmt. Daran ist die Würzburger Versammlung Schuld, wo R. viel mit dem hiesigen Gymnasialdirektor, der in Würzburg auf der Lehrerjagd war, zusammengekommen war u. ihm sehr gefallen hatte.

Zum Schluß noch die gewiss interessierende Mittheilung, daß Professor Schneller, Christian Schneller (1831-1908), Lehrer und Volkskundler. seit kurzem am Gymnasium in Innsbruck, vorher 12 Jahre Gymnasiallehrer in Roveredo, der im vorigen Jahr eine interessante Sammlung „Sagen und Märchen aus Wälschtirol“ herausgegeben hat, eine größere Arbeit über sämtliche italienische und ladinische Mundarten Südtirols (Grammatik, Idiotikon, Litteratur & Mundarten, etwa 100 Volkslieder) fertig hat. Schneller, Sagen und Märchen aus Wälschtirol; ein Beitrag zur deutschen Sagenkunde, Innsbruck: Wagner, 1867 ; Die romanischen Volksmundarten in Südtirol: Nach ihrem Zusammenhange mit den romanischen und germanischen Sprachen etymologisch und grammatikalisch dargestellt. Erster Band: Literatur, Einleitung, Lautlehre, Idioticon, Gera: Amthor, 1870 .

Doch nun schließe ich! Seien Sie herzlichst gegrüßt und lassen Sie es sich noch möglichst lange in dem schönen Rom recht wol gehen! Mit den besten Glückwünschen zum neuen Jahr

Ihr ergebener Reinhold Köhler

Weimar,

31. Dec. 1868