Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (023-S.53-56)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Rom

18. 12. 1868

language Deutsch

Schlagwörter: Germanistik Romanische Studien Herzogin Anna Amalia Bibliothek (Weimar)language Französischlanguage Französische Dialektelanguage Italienische Dialekte D´Ancona, Alessandro Teza, Emilio Comparetti, Domenico Schöll, Rudolf Alighieri, Dante Fernow, Hans Eduard Bartsch, Karl Friedrich Ritschl, Friedrich Wilhelm Schleicher, August Schweiz Rom Neapel Schuchardt, Hugo (1868) Bridel, Philippe Sirice (1866)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (023-S.53-56). Rom, 18. 12. 1868. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6672, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6672.


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Roma li 18 Dec. 1868

Verehrter Freund!

Schon längst hatte ich die Absicht, Ihnen zu schreiben; wie es aber geht, pflegt man die Verwirklichung von derartigen Vorsätzen aufzuschieben, bis eine besondere Veranlassung hinzutritt. Ich muß Ihnen zunächst von meinem Bummel durch die Welt eine kleine Rechenschaft ablegen. Nachdem ich einige Wochen in der französischen und deutschen Schweiz hin- und hergereist war, fixirte ich mich Ende Juni in Genf, woselbst ich bis Ende December blieb. Ich hatte mit der Correctur meines dritten Bandes noch vollauf zu thun; fand aber doch Zeit mich mit Eifer und Erfolg dem praktischen Studium des Französischen zu widmen, auch mich ein wenig um die schweizer (franz.) Dialekte zu bekümmern, von denen ein Wörterbuch meines Großonkels Bridel existirt. In Genf selbst ist, dank dem Kalvinismus, alles Nationale in Festen, Sitten, Kleidung, Ueberlieferungen ausgestorben, und wenn man auch ein ziemlich schlechtes Französisch daselbst spricht, so ist es doch darum nicht interessanter. Genf überhaupt, so günstig zwischen 3 Nationalitäten gelegen, ist durchaus kein Ort für Sprach- oder Kulturforschung; es ist ein großes Normalhôtel oder eine Normalschule. Einen sehr liebenswürdigen und bedeutenden Mann unter den dortigen Deutschen lernte ich kennen, den Dr. Lampmann,1|2| Korrespondenten für verschiedene Zeitungen, welcher sich sehr mit germanistischen Studien beschäftigte und mir interessante Mittheilungen über die Mischung römischer, germanischer und keltischer Mythologie in der Schweiz und Savoyen machte (er hat, wenn ich nicht irre, über Berglermythus,2 in der Schweiz, einmal im Morgenblatt geschrieben). Von Genf aus reiste ich kurz vor Weihnachten über Genua, Spezia, Pisa, Livorno nach Rom. In Pisa brachte ich an D’Ancona Ihre Grüße;3Teza4 war damals nicht vorhanden. D’Ancona war außerordentlich liebenswürdig gegen mich, opferte mir einen ganzen Tag und ließ mich auch Comparetti‘s5 Bekanntschaft machen. In Rom, das mir erst mißfiel und das ich von Tag zu Tag mehr lieben gelernt habe, machte ich dann zunächst meine Touristenwanderung und entschloß mich endlich, mich ganz dem romanistischen Fache zuzuwenden. Ende Juni ging ich in’s Albanergebirge nach Ariccia, wo ich eine viermonatige Villeggiatur hielt, mit den Bauern kneipte und Mondschein und Mandolinenklang genoß. Dann am 1 Oktober reiste ich nach Neapel, hauptsächlich um mich daselbst, wie jeder anständige Fremde zu thun pflegt, bestehlen zu lassen, dann um Natur zu kneipen, so wie Malvasier und Lacrimae Christi. 4 Wochen studirte ich, halb gezwungener Weise, in Pompeji Alterthum, machte von da in Gesellschaft u. A. Ihres Landsmannes R. Schöll6 Ausflüge nach Paestum und Capri, brachte 14 andere Tage in Neapel zu, bestieg in einer Nacht den Vesuv, um mir eine Vorstellung von Dante’s Hölle zu machen (welch unbeschreibliches Schauspiel!) und bin seit einem Monat nach Rom zurückgekehrt. Ich habe mich bei einer |3| römischen Familie in dozzina (Pension) gegeben und habe dadurch das Glück, mir durch Einhaltung der Fasten (die bes. im Genuß von Meerspinnen und anderem Seeungethüm besteht) Verdienste um mein Seelenheil zu erwerben. Meine Wohnung ist in einer klassischen d. h. ungeheuer schmutzigen, engen und bevölkerten Gegend gelegen, das Haus selbst aber elegant. Zwei Schritt und ich bin im Ghetto; zwei Schritt zur Tiberbrücke, zwei Schritt zum Marcellustheater, dicht vor mir der Bogen der Oktavia, an welche sich malerisch mittelalterliche Häuser anklammern. Darunter der Fischmarkt; sehr viel Gestank, Geschrei und Schmutz. Aber an diese Orte, bes. an S. Angelo di Pescaria heftet sich Cola Rienzo’s Name, eines Mannes, für den, obwohl er ein Charlatan war, ich mich sehr interessire. Mit Deutschen komme ich fast gar nicht zusammen; Tags studire ich auf den Bibliotheken, nach Avemmaria speise ich zu Mittag, trinke meinen Caffee, in einem von Barbarenfüßen unentweihten Lokal, kneipe dann in Trastevere, um Sprach- und Sittenstudien zu machen (spiele oft die bekannte Passatella7 mit, bei der es sonst gewöhnlich zu Messerstichen kam) und verbringe den Abend, d. h. bis Mitternacht, au sein de ma famille; denn daselbst finden sich stets junge Herren, auch junge Damen ein. Zuweilen werden Spiele gespielt; manchmal gehe ich auswärts, auch Tanzens halber. Meine ganze Aufmerksamkeit ist auf Ergründung römischer Sitten und der römischen Mundart gerichtet. Über letztere denke ich binnen Kurzem eine Arbeit vollendet zu haben, möglichst mit Berücksichtigung der anderen ital. Mundarten. Fernow (Röm. Stud. III, 301, 496 sq.) besaß Handschriften eines romanesken Dichters, Benedetto Miccheli.8 Können Sie mir über seine Hinterlassenschaft oder seine |4| Familie (er war ja doch wohl Weimaraner?) Auskunft verschaffen? Dieses die Bitte, die ich an Sie richten wollte. Wenn ich irgend Ihnen nützlich sein kann, so thue ich es mit Freuden. Märchen gibt es, wie auch andere wirklich charakteristische Ueberlieferungen, hier freilich nicht; Alles Heiligengeschichten. Gestern kaufte ich mir in einer Auktion die Märchen des Abbatutis im neapol. Dial.9 Kennen Sie dieselben? Ich glaube das Buch ist selten. – Bartsch10 hält sich auch einige Monate seiner provenzal. Studien wegen hier auf; es ist ein recht liebenswürdiger und anspruchsloser Mann. Was glauben Sie, daß für einen Romanisten jetzt in Deutschland zu hoffen ist? Mein Vater drängt mich zur Rückkehr und zur Habilitation; und ich muß mich demnach etwas darauf vorbereiten. Der Gedanke an meine Zukunft verdüstert jetzt zuweilen meinen Humor; ich habe kaum irgend einflußreiche Bekanntschaften in Deutschland und ohne Protektion bringt man es ja doch in unserem lieben Vaterland nicht vorwärts. Ritschl,11 der Einzige, dem ich mich je näherte, läßt mich zum Danke dafür auf alle mögliche Weise, aber natürlich möglichst indirekt (denn er möchte nicht den Anschein haben, sich um meine Wenigkeit irgendwie zu bekümmern) seine Mißgunst fühlen. Tief betrübt hat mich Schleicher’s12 Tod, um so mehr, wenn ich denke, wie ein so verdienstvoller Mann doch in so beschränkten Lebensverhältnissen hat aushalten müssen. – Wenn Ihnen irgend etwas aufstößt, was für mich von besonderem Interesse wäre, so bitte ich Sie, es zu notiren; man sitzt hier gewissermaßen an der Quelle und weiß doch auf der anderen Seite von (Gott und) [# würde hier die Censur nicht passiren, passirt aber hoffentlich die Grenze] der lieben Welt Nichts. Verzeihen Sie meine kritzliche Schrift (ich friere nämlich scheußlich an die Hände) und meinen dornigen Stil.

Mit bestem Gruß

Ihr
Dr. Hugo Schuchardt

(Via della Pescaria / N. 39. lett. F.)


1 Wilhelm Lampmann (keine Lebensdaten), langjähriger Korrespondent der Allgemeinen Zeitung in Genf, vgl. HSA, 06213-06214.

2 Entzifferung nicht ganz sicher.

3 Alessandro d’Ancona (1835-1914), ital. Literaturhistoriker; vgl. HSA 00075- 00085.

4 Emilio Teza (1831-1912), ital. Literaturhistoriker; vgl. HSA 11609-11642.

5 Domenico Comparetti (1835-1927), ital. Klassischer Philologe; vgl. HSA 01696-01698.

6 Rudolf Schöll (1844-1893), klassischer Philologe, aus Weimar stammend, später Professor in Greifswald, Straßburg und München; vgl. HSA 10143.

7 Spezifisch römische Sitte, ein Trinkgelage abzuhalten, bei dem den einzelnen Trinkern von einem Vorsitzenden die zu konsumierende Alkoholmenge zugemessen wird.

8 Carl Ludwig Fernow (1763-1808), deutscher Kunsthistoriker, Bibliothekar in Weimar. Fernow schreibt (loc. cit.), er besitze die Originalhandschrift von La libertà Romana acquistata e defesa, Povema eroicomico de Benedetto Miccheli Romano (…) Didicato al nobilissimo Popolo Romano 1765 . Das Gedicht sei angeblich nie gedruckt worden; es besinge die Vertreibung der Tarquinier aus Rom in 12 Gesängen. Benedetto Miccheli (1699-1784) war ein römischer Dichter, Musiker und Librettist. Die Hs. befindet sich heute in der Anna-Amalia-Bibliothek unter der Sign. Q 595. Eine erste Ausg. des Gedichts erschien 1901 in Rom, eine zweite 1991. – Vgl. auch den folgenden Brief HSA 05695. – Frau Annett Carius-Kiehne (Klassik Stiftung Weimar) stellte freundlicherweise ein Digitalisat von „Catalog der Bibliothek des Hrn. Professoris Fernow gefertigt im Febr. u. Maerz 1809“ zur Verfügung, wo es in der Sparte A. Werke in ausländischen Sprachen zu Hs. Loc A: 6 heißt: „I. Micheli (Bened.) La libertà Romana. Povema eroico-comico in lingua Romanesca (1765 Manoscritto .4: 10 // I. Micheli (Bened.) Povesie in lingua Romanesca: Roma 1767.Manoscritto 4.).

9 Abbatutis, Ps. von Giambattista Basile (1575-1623), Vf. des Pentamerone.

10 Karl Friedrich Bartsch (1832-1888); vgl HSA 00551-00554.

11 Friedrich Wilhelm Ritschl (1806-1876), Altphilologe in Halle, Breslau, Bonn und Leipzig; vgl. HSA 09669- 09671).

12 August Schleicher (1821-1868), Sprachwissenschaftler und Indogermanist, Prof. in Prag und Jena.

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.53)