Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (021-S.47-50)
von Hugo Schuchardt
13. 09. 1867
Deutsch
Schlagwörter: Revue critique d'histoire et de littérature Kongresse und Versammlungen Augsburger Allgemeine Zeitung - Beilagen Latein Morel, Charles Paris, Gaston Garibaldi, Giuseppe Schuchardt, Hugo (1867)
Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (021-S.47-50). Genf, 13. 09. 1867. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6670, abgerufen am 18. 09. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6670.
Genf 13. Sept. 1867.
Mein lieber Herr Doktor!
[S. 47-50]
Es ist eine abspannende Hitze; ich habe die Jalousieen geschlossen und nach einem unruhigen Schlummer zu faul zu jeglicher Arbeit (was ich leider für die letzten Wochen nicht als Ausnahme bezeichnen kann), komme ich auf den Gedanken, mit Ihnen ein wenig zu plaudern. Ich danke Ihnen vielmals für Ihren liebenswürdigen Brief, an welchen anknüpfend ich Ihnen bemerke, daß ct für tt seit dem frühesten Mittelalter eine außerordentlich häufige Schreibung ist. Daß sich in dem Latein des 14 Jahrh. dixiti, responditi finden, ist mir interessant. Ich habe II, 393fg.1 bemerkt, daß die Italiener besonders nach t beim Sprechen fremder Sprachen gern einen vokalischen Laut hören lassen, ohne alte Beispiele dieser Sitte beizubringen. Aber sie existiren:
quescitae (zweifelhaft) }
ποσουετε } II, 448
vixiti Rossi Bull. arch. crist. III,11 (oder 17 welche Zahl?)
Ich habe in der letzten Zeit so gut wie gar Nichts gearbeitet und gelesen, aber doch auf andere Weise Manches gelernt, wie denn seit einiger Zeit beide Theater geöffnet sind. Ich nahm an der Sitzung der Société de l’histoire de la Suisse romande Theil, die vor 8 Tagen in dem Gerichtssaal des alterthümlichen Schlosses von |2| Nyon Statt hatte. Beim Mittagsessen saß ich neben Chs Morel,2 Mitredakteur der Revue critique, dessen Bekanntschaft ich gemacht hatte. Einige Tage später lud er mich nach Vevey ein, wohin er von Clarens auch Gaston Paris citirt hatte. Der letztere ist während des Friedenskongresses3 2 Tage in Genf gewesen, von denen ich den gestrigen mit ihm zugebracht habe. Wir tranken den Frühschoppen zusammen, dinirten, fuhren im Kahn, wobei ich ein wenig Seekrankheit bekam, soupirten, besuchten das Casino, worauf er mich noch gegen Mitternacht zu Hause brachte. Dies alles unter den vertraulichsten Gesprächen über Wissenschaft, Politik u. s. w. Er scheint mir in wissenschaftlicher Beziehung sehr tüchtig zu sein (ich habe bisher auf das, was er geschrieben, nicht sonderlich geachtet) und hat auf mich überhaupt einen so angenehmen Eindruck gemacht, wie seit langer Zeit Niemand, trotzdem daß unsere Ansichten in Allem, mit Ausnahme der Wissenschaft, fast diametral entgegengesetzt sind. Als wir gestern Nacht über die Brücken der Rhone lustwandelten, wurde er von diesem Fluß außerordentlich gefesselt und über das Geländer gebeugt, murmelte er: Halb zog sie ihn, halb sank er hin.4 In der That ist Genf bei Nacht oft zauberhaft. Paris hat mir herzliche Grüße an Sie aufgetragen. Der Friedenskongreß hat gestern ein schmähliches Ende genommen. Er war gleich von Anfang an ein Kongreß der Demokratie. Während der Anwesenheit Gari- |3| baldis ging es noch friedlich zu, obgleich die Redner sich schon die größten Extravaganzen erlaubten und durchaus keine Ordnung eingehalten wurde. Nach Jenes Abreise aber ist das Ganze nur ein großer Tumult gewesen und mein monarchischer Sinn, der zuerst ein wenig erbittert war, ist dadurch sehr erbaut worden. Es haben sich auch Deutsche (wie Simon von Trier)5 hören lassen; aber im Allgemeinen werden sich wenig deutsche Demokraten finden, die mit diesen italienischen und französischen sympathisiren. Man hat mit einer Wuth die bestehenden Staatsformen, Religionen, socialen Verhältnisse angegriffen, die durch ihr Übermaß einen lächerlichen Eindruck auf mich und auf jeden Besonnenen machen mußte. Glauben Sie, daß man Garibaldi, dessen Charakter ich übrigens volle Anerkennung zolle, mit Jesus Christus verglichen hat?
Im Chronicle ist zufolge der Augsburger Zeitung (30 Aug.) von mir die Rede; da ich aber nicht weiß in welcher Nummer, kann ich mir dieselbe nicht verschaffen. Haben Sie in Weimar diese Zeitschrift?
Mit bestem Gruß
Ihr ergebener Freund
Hugo Schuchardt
verte!6
|4| Rathen Sie, welcher lächerliche Umstand an der um 3 Tage verspäteten Aufgabe dieses Briefes schuld ist? Dem Mangel eines Briefcouverts. Jedesmal, wenn ich in die Stadt ging (ich wohne in der Vorstadt der Eaux-vives7), vergaß ich, dießen Artikel mitzubringen.
1 Der Vokalismus des Vulgärlateins II.
2 Charles Morel (1837-1902), Schweizer Archäologe und Historiker; vgl. HSA Briefe 07484-07486.
3 Es handelt sich um den Gründungskongresses der „Liga für Frieden und Freiheit“. Diese Liga versammelte verschiedene ideologische Strömungen und verstand sich als Schule für eine staatsbürgerliche Gesinnung, deren Ziel die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa war (so auch der Titel ihrer Zeitschrift).
4 Goethe, Ballade Der Fischer.
5 Ludwig Simon (1819-1872), deutscher Revolutionär, 1848/49 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung.
6 „bitte wenden!“
7 Diese Gemeinde unmittelbar am Genfer See gelegen wurde 1930 eingemeindet.
Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.47)