Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (020-S.43-46)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Genf

31. 07. 1867

language Deutsch

Schlagwörter: Revue critique d'histoire et de littérature Jahrbuch für Romanische und Englische Literatur Zeitschrift für österreichische Gymnasienlanguage Romanische Sprachen Mussafia, Adolf Schweiz Graubünden Frankreich Italien Spanien Bridel, Philippe Sirice (1866)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (020-S.43-46). Genf, 31. 07. 1867. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6669, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6669.


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Genève 31. Juli 1867

Mein lieber Herr Doktor!

[S. 43-46]

Sie hatten mir erlaubt, Ihnen einmal Nachricht von mir zukommen zu lassen. Nachdem ich über 6 Wochen mit meiner Mutter in der Schweiz herumgereist war (Lausanne, Montreux, Glion, Campagne bei Genf, Lausanne, Thun, Interlaken, Rigi), ließ ich mich vor 5 Wochen hier häuslich nieder. Ich lebe in einer Pension, die seit einiger Zeit durch den Beginn der Akademieferien fast ganz entvölkert ist. Es ist jetzt die allerlangweiligste Jahreszeit von Genf, da die vornehme Welt auf dem Land oder verreist ist, und in Folge dessen weder Theater, noch Bälle, höchst selten ein Concert stattfindet. Hingegen haben wir immer prachtvolles Wetter; ich werde auch nächstens nach Chamonix gehen, den Montblanc selbst jedoch nicht behelligen. Zuviel Ausflüge kann ich schon deshalb nicht machen, um meinen Hauptzweck das Französische zu studiren, nicht aus den Augen zu lassen. Auch fesselt mich |2| die Korrektur meiner Druckbogen. In Folge dessen habe ich, freilich mit Schmerzen, Graubünden für diesen Herbst aufgegeben. Wissenschaftliches Leben existirt hier gar nicht; in einer Stadt, welche so günstig für das Studium der romanischen Sprachen gelegen ist, habe ich trotz verschiedener Nachforschung keine Person entdecken können, welche sich für dasselbe interessirt. Ueberhaupt der einzige Mann, der sich hier mit Linguistik beschäftigt, ist Adolphe Pictet.1 Ein Großonkel von mir, Dekan in Montreux, hat ein Wörterbuch des Patois der Suisse romande geschrieben.2 In den beiden Bibliotheken ist nicht viel zu holen; die öffentliche, welche bis zum 15. August geschlossen ist, enthält waldensische Manuscripte.3 Ich möchte wissen, ob hier Etwas zu machen ist; ich kann hier nicht erfahren, was von Waldensischem veröffentlicht ist. Denken Sie, daß ich bis jetzt die Revue critique noch nicht habe auftreiben können, nicht einmal in der Société de lecture, die so viele Zeitschriften enthält und jetzt sogar „die Jahrbücher für romanische Litteratur“4 angeschafft hat. Genf entbehrt |3| jeden eigenthümlichen Zug; es ist ein großes Fremdenhôtel. Der Vorzug des Genfers ist seine strenge Moralität und Religiosität; im Uebrigen ist er oberflächlich wie der Franzose und schwerfällig wie der Deutsche. Es gewährt mir ein großes Vergnügen, Parallelen zu ziehen, Vergleichungen anzustellen. Dies hat mich auf ein interessantes Thema geführt. Es ist sicher, daß die romanischen Nationen Gemeinsames besitzen; wie würden sie sonst nicht unter einem Namen zusammenfassen. Aber es frägt sich, ob dieses Gemeinsame in etwas Anderem besteht, als in der Sprache? Vielleicht läßt sich noch ein gleicher Zug in der Litteratur nachweisen. Doch sonst? Besteht in Bezug auf Ueberlieferung, Feste, Sitten u. s. w. ein engerer Zusammenhang zwischen Frankreich, Italien und Spanien, als z. B. zwischen Frankreich und Deutschland? Sind nicht, um nur eins zu nennen, die Märchen auf romanischem und germanischem Gebiete wesentlich dieselben? Vielleicht ließe sich aus ihrer verschiedenen Formung die Verschiedenheit der Nationalcharaktere entwickeln. |4| Welche Spuren römischen Wesens haben sich bis heutigen Tag erhalten? Gibt es Werke, welche die lateinischen Völker unter einem Gesichtspunkte, dem historischen, litterarhistorischen, kulturhistorischen u. s. w. betrachten? Existirt nicht z. B. ein Buch mit dem Titel de l’esprit des nations du midi oder ähnliches? Wenn Ihnen etwas dergleichen gegenwärtig sein oder aufstoßen sollte, so haben Sie vielleicht die Güte, es für mich zu notiren. Ich lebe hier ganz angenehm, flanire, spiele Billard, trinke schwarzen Caffee, eigne mir alle Laster des Romanen (bis auf den Absinth) an – aber in wissenschaftlicher Beziehung ist Genf eine wüste Insel für mich. Sind Sie vielleicht einer von Mussafia längrer versprochenen Recension meines Buches in der Ztschr. f. öst. Gymn. oder sonst mich speziell Angehendem begegnet?

Mit herzlichsten Grüßen

Ihr ergebenster

Dr. Hugo Schuchardt

Pré-l’Évêque, Pension

Blanvalet.5


1 Adolphe Pictet (1799-1875), Genfer Universalgelehrter, u. a. Sprachwissenschaftler, Verf. von De l'affinité des langues celtiques avec le sanscrit (1837) , Essai sur quelques inscriptions en langue gauloise (1859) , Les origines indo-européennes, ou les Aryas primitifs (1859-63) .

2 Glossaire du patois de la Suisse Romande, par le Doyen Bridel. Avec un appendice comprenant une série de trad. de la parabole de l'enfant prodigue, quelques morceaux patois en vers et en prose et une coll. de proverbes, le tout rec. et annoté par L. Favrat, Lausanne: Bridel, 1866.

3 Vgl. z.B. Genève, Bibliothèque de Genève, Ms. l.e. 206: Sammelband mit waldenser Traktaten und Predigten (digitalisiert) ; Ms. l.e. 209a: Sammelband mit waldenser Traktaten und Predigten, in Latein und Okzitanisch.

4 Vermutlich ist gem. Jahrbuch für romanische und englische Litteratur, 1859-71.

5 Wohnsitz des Schriftstellers Henri Blanvalet de Schmitz (1811-1870) vgl. HSA 01031 (Brief Blanvalets vom 7.12.1867). Zu Einzelheiten vgl. hls.

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.43)