Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (006-S.11-14)

von Hugo Schuchardt

an Reinhold Köhler

Gotha

24. 10. 1865

language Deutsch

Schlagwörter: Österreichische Akademie der Wissenschaften (Wien) Romanistik Philologienlanguage Sizilianische Dialektelanguage Friaulischlanguage Rumänischlanguage Mailändischlanguage Wallonischlanguage Neugriechischlanguage Keltische Sprachenlanguage Lateinlanguage Albanischlanguage Mittellateinlanguage Italienischlanguage Lombardische Dialektelanguage Rätoromanische Sprachenlanguage Spanisch Mussafia, Adolf Ascoli, Graziadio Isaia Riese, Friedrich Alexander Italien Sardinien Gotha Weimar Bonn Wentrup, Friedrich (1855) Mitterrutzner, Johann (1856) Diez, Friedrich Christian (1853)

Zitiervorschlag: Hugo Schuchardt an Reinhold Köhler (006-S.11-14). Gotha, 24. 10. 1865. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6655, abgerufen am 29. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6655.


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Gotha den 24. Oct. 1865

Sehr geehrter Herr Doktor!

[S.11-14]

Es war sehr gütig von Ihnen mir ‚Mussafia Monumenti antichi‘ sogleich zu schicken; aber diese Schrift war mir, da sie aus den Berichten der Wiener Akademie abgedruckt ist, schon bekannt, wenn ich sie auch noch nicht genauer durchgenommen hatte. Sie bietet für die romanische Lautgeschichte sehr bemerkenswerthe Formen dar. Ich meinte nämlich ein oder zwei Abhandlungen von Mussafia, deren er gegen mich Erwähnung that, da wir über den Wechsel der Vokale i und e, u und o im Sizilianischen und die Verwandtschaft des Friaulischen zum Walachischen, welche Ascoli behauptete, sprachen; ich kann weiter Nichts darüber angeben, als dass sie in Italien, möglicherweise in einer Zeitschrift, erschienen sind: Titel und Druckort konnte ich nicht ausfindig machen; ich glaubte dies von Ihnen, der Sie Mussafia doch schon länger kennen, erfahren zu können.1

Ich sende die entliehenen Bücher zurück, mit Ausnahme des mailändischen und des sizilianischen Wörterbuches, welche ich noch einige Tage behalten möchte. Meine neuen Anliegen betreffen Martini Pergamena d’Arborea Cagliari, das ich mich entsinne, bei Ihnen gesehen zu haben.2 Oder ist über diese Art der sardinischen Denkmäler noch etwas anderes geschrieben worden? Ferner den Band von Grandgagnani’s Wb. des Wallonischen, in welchem die Einleitung enthalten ist.3 Endlich die |2| altfranzösische Grammatik von Burguy, welche wir nicht einmal besitzen.4

Außerdem wage ich es zwei Bitten auszusprechen, welche Ihre Gefälligkeit etwas stärker in Anspruch nehmen. Wenn Sie in den nächsten Tagen an Perrets Katakombenwerk5 vorübergehen, so haben Sie vielleicht die Güte, Sich zu überzeugen, ob

Bd. V Taf. XXIX N. 22 filiem meem }ja!

                  V XXXII N. 4 himi d. h. emi6

V XXI, N. 8 oder 2 parintes7

steht und mir den Anfang der Inschrift V, XXXIV., 93, in welcher Jenuarie vorkommt, mitzutheilen.

Ich hatte Ihnen bei meiner Anwesenheit gesagt, dass die Schulprogramme der Gothaer Gymnasialbibliothek sich der Benutzung entzögen, indem sie nicht geordnet wären. Nun weiss ich wirklich nicht, weshalb man sie hier sammelt; man sollte Gott danken, wenn Einer ein oder das andere benutzen will. Wenn Sie bei Gelegenheit (es hat durchaus keine Eile) vom Weimaraner Gymnasium folgende Programme auf kurze Zeit für mich bekommen könnten, würde ich Ihnen sehr verbunden sein:

1855   Hedingen – Wahlenberg

Braunschweig – Schulz

Hirschberg – Dietrich

Wittenberg – Wentrup

1856   Brixen – Mitterrutzner

1857   Berlin Friedr.-Wilh.-Gymn. – Geisler

1859 Ostrowo – Stephan

1860 Düren – Schmitz

1863 Trier – Conrads.8

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An das walachische Wort broascȩ bin ich bei meinen Studien mehr als einmal erinnert worden. Es findet sich auch im Neugriechischenμπράσκα. S. Diefenbach, Celtica I, 217, der Identität mit Frosch zugibt und bemerkt: „Dass es gerade in Ost-Europa sich erhalten hat, lässt, da wir dort den unvorstellbaren Einfluss des Keltischen minder stark glauben, auf Alter vielleicht Ursprünglichkeit im Lateinischen schliessen“. Und er kannte doch die albanesische Form, durch welche diese Ansicht so viel Gewicht erhält, nicht. Übrigens findet sich das Wort, freilich mit abgeworfenem b (wie ja auch der Pflanzenname mittellat.ruscus neben bruscus, it.rusco neben  brusco und gr. lomb. piacen.9rusca = gr. brusca Bienenkorb): churw.rusc, ruosc, trient. rosch. Dieses aber berührt sich wiederum mit dem ital.rospo (in lombard. Diall. merkwürdig rapatù, ropàt), welches Diez Et. Wb. II, 57 mit ruspo, rauh in Zusammenhang glaubt. In Bezug auf Bedeutung würde hiermit sp.escuerpo von (it. scorpa) stimmen, ja jenes churw. rusc selbst, da im Oberitalienischen rusca Rinde bedeutet.

Verzeihen Sie diesen Erguss meinem Interesse für das Wort broascȩ, welches Sie angeregt haben.

Haben Sie vielleicht bei der Philologenversammlung10Dr. Riese aus Heidelberg kennen lernen?11 Er war mit mir im Bonner Seminar zusammen und hat sich vor |4| einiger Zeit habilitiert. Er ist zum Sekretär erwählt worden, wie ich lese.

Grüsse von Pertsch.12

Mit bestem Grusse und vielem Danke post= und praenumerando13

Ihr ergebenster

Dr. Schuchardt.


1 G. I. Ascoli, Sull’idioma friulano e sulla sua affinita con la lingua valacca; schizzo storico-filologico, Udine: Vendrame, 1846.

2 Pergamena di Arborea illustrata dal cav. Pietro Martini, Cagliari: A. Timon, 1846. Vgl. auch Giacinto Giozza, Le pergamene d'Arborea ossia le vere origini della letteratura italiana, Turin: Tip. della Bandiera dello Studente, 1868.

3 Charles Grandgagnage, Vocabulaire des noms wallons d’animaux, de plantes et de minéraux, Liège: Gnusé, 1857.

4 Geoges Frédéric Burguy, Grammaire de la langue d'oil, Berlin 1853-56, 3 Bde. (danach immer wieder aufgelegt).

5 Louis Perret, Catacombes de Rome: Architecture, peintures murales, lampes, vases, pierres ... Ouvr. publ. par ordre et aux frais du gouv. ... / gravés sur pierre par Louis Perret. Vol. 5: Inscriptions, figures et symboles gravées sur pierre, Paris: Gide et Baudry, 1851, 325 Taf., 2°.

6 Vermutlich von Köhlers Hand mit Bleistift verbessert (statt V) Vol. I; nach N. 4 eingefügt p. 119

7 Abermals von Köhlers Hand „oder 2“ gestrichen u. hinter parintes „ja“.

8 Friedrich Wilhem Wahlenberg, Über Einwirkung der Vokale auf Vokale, Sigmaringen: P. Liehner, 1855 ; Albert Dietrich, De vocalium quibusdam in lingua latina affectibus, Hirschberg, 1855 ; Friedrich Wentrup, Beiträge zur Kenntniss der Neapolitanischen Mundart, Wittenberg: Rübener, 1855; Johann Chrysostomos Mitterrutzner, Die rhätoladinischen Dialekte in Tirol und ihre Lautbezeichnung, Brixen 1856; Wilhelm Geisler, Studia palaeographica. Zu den Schulfeierlichkeiten, in dem Königlichen Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, Berlin 1857 ; Julius Stephan, Einfluß des Slawischen auf das Wallachische, Ostrowo: Hoffmann, 1859 ; Wilhelm Schmitz, Studia orthoëpica et orthographica latina, Düren 1860 ; Fridrich Conrads, Anaestiones Virgilianae, Trier: Lintz, 1863.

9 Vermutlich Abk. für grednerisch, grödnerisch / lombardisch / piacentinisch.

10 Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Heidelberg vom 27. bis 30. September 1865.

11 Friedrich Alexander Riese (1840-1922), 1859 Stud. Erlangen, Bonn, Berlin; 21.10.1864 Habil. Heidelberg, ao. Prof. ebd., danach Gymnasialprofessor in Frankfurt a. M.

12 Wilhelm Pertsch (1832-1899), Orientalist u. Bibliothekar in Gotha.

13 Im Voraus bzw. später zahlen.

Faksimiles: Die Verwendung dieses Exemplars im „Hugo Schuchardt Archiv” wurde von der Archivdatenbank des Goethe- und Schiller-Archivs gestattet. (Sig. S.11)