Ferdinand Hestermann an Hugo Schuchardt (8-04703)

von Ferdinand Hestermann

an Hugo Schuchardt

Unbekannt

05. 10. 1917

language Deutsch

Schlagwörter: Sondersprachen Sprachverwandtschaft Sprachen in Australien Typologie und Sprachverwandtschaft Anthroposlanguage Tabassaranischlanguage Kaukasische Sprachenlanguage Elamitischlanguage Englisch Rivet, Paul Müller, Friedrich Wundt, Wilhelm Delbrück, Berthold Whitney, William Dwight Graebner, Fritz Trombetti, Alfredo Corssen, Wilhelm Gabelentz, Hans Georg Conon von der Malakka Schuchardt, Hugo (1917) Schuchardt, Hugo (1912)

Zitiervorschlag: Ferdinand Hestermann an Hugo Schuchardt (8-04703). Unbekannt, 05. 10. 1917. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2019). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6649, abgerufen am 04. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6649.


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5.10.17

Sehr verehrter Herr Hofrat!

Nehmen Sie meinen aufrichtigen Dank für die mir übersandte Arbeit, die ich mit größtem Interesse gelesen habe.1

Seit langer Zeit schon habe ich diese Ihre Ideen studierend verfolgt. Besonders seit dem Erscheinen von „ Wörter und Sachen“, auch seit Ihrem so benannten Aufsatz im Anthropos.2

Das lebhafte Interesse an der Frage nun veranlaßt mich, Herrn Hofrat einige meiner diesbezüglichen Anschauungen vorzulegen, was ich mir zu gestatten bitte. Ich beziehe mich aber nur auf diese letzte Arbeit, da ich nichts anderes zurhand habe.

Ich muß [Lücke] daß ich immer den Eindruck gewinne, als wenn nach Ihrer Anschauung eigentlich alle Sprachverwandtschaft eigentlich nur ein Studium abgestufter geordneter kreolischer Sprachen ist. Und das ist ja auch richtig so. Das ist ja eigentlich schon oft und oft ähnlich gesagt. Aber ich frage |2| mich, ob das eine sprachwissenschaftliche Grundfrage ist. Wenn ich eine Creolensprache nach ihrer Herkunft, sei es realer, sei es formaler Natur, auseinanderlege, so kann ich das Zusammengelegte ja nach der Zugehörigkeit wieder zusammenfassen. So macht es Rivet3 für die südamerikanischen Sprachen. S. seine Tabellen im Journal des Améric. 1910 ff.4

Das ist aber trotzdem unrichtig. Denn der Durchschnittslinguist lebt bis dato immer noch von der Vorstellung, daß die Sprache zuerst einmal woher kommt, und dann erst sich mischt. Sie werden entgegnen, daß das de facto wohl nirgends so war. Ganz richtig! Aber wo etwas Gemischtes ist, da sind die Komponenten früher als die Mischung. Und da eine Mischung mit 2 Komponen- |3| ten beginnen kann oder muß, so kann ein Komponent früher sein.

Aber auch der frühere Komponent ist nicht die durchschlagende Kraft für das criterium der Verwandtschaft.

„Verwandtschaft“. Bei diesem Worte haben Müller, Wundt, Delbrück, Whitney,5 ja alle mehr oder minder das „omne simile claudicat“6 nicht beachtet.

Wenn Sie übrigens Graebner7 anführen, so besteht sein ganzes Kulturkreissystem nur auf dem Prinzip von der Priorität irgendeines Komponenten. Und für den Linguisten scheint die Sache ebenso richtig wie anfechtbar.

Was Sie immer darlegen, ist m. E. immer das letzte, das Endergeb- |4| nis der Sprachwissenschaft.

Denn das Bild der Verwandtschaft scheint genauer als man ahnt. Ein Kind sieht in der Jugend den Vater, erwachsen der Mutter ähnlich, vielleicht körperlich, vielleicht nur im Gesicht, der Statur, oder auch moralisch. Und war in einer weißen Familie irgendein Vorfahr ein Neger, so kann auch das auftreten. -----

Ich kann mich auch nicht entschließen, Trombetti8 wissenschaftlich zu nehmen. Wer tut das? Ist denn nicht sein ganzes Werk der Pronomina ein Nonsens? Auch das Beispiel des Hethitischen (Kaukasisch + Arisch, KA AK) paßt mir nicht, noch das Elamisch bei Trombetti. Ich könnte das, genau wie bei Rivet (s. o.) vom Deutschen so |5| machen, trotzdem daß wir wissen, daß sie vom Idg. stammt. Ich sehe bei Trombetti weder Besonnenheit noch Kühnheit. Denn unbesonnene Kühnheit ist etwas anderes.

Ein bisher Unentzifferbares zu systematisieren ist nicht à la Corssen9 unfruchtbar, im Gegenteil, es muß ohne Intuition zur Wahrheit führen, wodurch sich ja Glück von Wissenschaft unterscheidet. Freilich gibt Intuition der Wissenschaft eine glückliche Hand.

Nach v. d. Gabelenz10 sollen die Sprachen, die wir besitzen, nur ein paar Scherben sein. Wer wird mir beweisen, daß die Scherben, die fehlen, gerade jene sind, die notwendig sind, die Sprachgruppen als verwandt zu überbrücken.

Die Stichprobe. Ja, die ist stichhaltig. Ich |6| habe meine Karte der australischen Sprachen zuerst nach der Zahl „2“ skizziert, aus 544 Dialekten. Das hat sich trefflich bewährt. Es hätte auch unbewährt sein können. Dann hätte ich nicht die Zahl „2“ genommen. Schmidt hat das erweitert zu der Type „Hand, Auge, Ohr“. Ich mache es beim Buschmännischen ebenso.

Das sind aber alles erst Anfänge. Was Sie schildern, sind die äußersten Spitzen der Sprachwissenschaft. Gewiß wird es am Ende so sein, wie Herr Hofrat es schildern. Aber vorläufig können und müssen wir es anders machen, anfangen.

Es sind das auch Fragen, die |7| fast nur Kultur- und Nomadensprachen betreffen.

Und bei den letzten noch mit Reserven. Ich habe Schmidt’s australische Sprachen11 vom Himalaya nach Malakka aufgearbeitet, und ich staune, wie die 120 Wörter der gesamten Sprachgruppe so genau gesucht haben,12 einzig vom Nicobaresischen aus.

Das Romanische hat ja eine ähnliche Stellung im Idg.

Doch, es würde mich zu weit führen. Es sind, zusammengenommen, trotzdem nur Trümmer, die die späteren „Verwandtschaften“ ausmachen, das sind |8| alles Äußerlichkeiten, wie die 5 Perioden der Latinisierung des Englischen.

Es gehört also im Grunde genommen nur die eine Frage daher: Was ist eigentlich Verwandtschaft? Ich meine damit nur die elementare Verwandtschaft, ebenso wie ein Kind nur eine Mutter haben kann. Was die Mutter an Beerbung für das Kind mitbringt, was es auch später wird, Alles das ändert nie die Abstammung. -------

Verzeihen Sie meine Flüchtigkeit und die Abgerissenheit meiner Gedanken, da ich kein Heft schreiben wollte. Aber ich glaube, man könnte noch lange darüber disputieren.

Dankbarst u. in ergebenster Hochschätzung
F. Hestermann

Nagyrábé, Bihar,
m., Ungarn


1 Schuchardt, „ Sprachverwandtschaft“, ( Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 37, 1917, 518-529. [Archiv-/Breviernummer: 695].

2 Schuchardt, „Sachen und Wörter“, Anthropos 7, 1912, 827-839. [Archiv-/Breviernummer: 629].

3 Paul Rivet (1876-1958), franz. Ethnologe, Verfasser zahlreicher einschlägiger Arbeiten.

4 Rivet, „Les langues guaranies du Haut-Amazone“, Journal de la Société des Américanistes 7, 1910, 149-178; Ders., „Sur quelques aspects Panos peu connus“, ebd., 221-242.

5 Friedrich Müller (1834-1898), Wilhelm Wundt (1832-1920), Berthold Delbrück (1842-1922), William Dwight Whitney (1827-1894).

6 „Jeder Vergleich hinkt“.

7 Fritz Graebner, vgl. Brief 04700.

8 Alfredo Trombetti (1866-1929), italien. Linguist, Vertreter der Monoglottogenese.

9 Wilhelm Paul Corssen (1820-1875), deutscher Klassischer Philologe, Sprach- und Altertumsforscher (Etruskologe).

10 Georg von der Gabelentz (1840-1893), deutscher Sinologe, Vorreiter der modernen synchronen Sprachbetrachtung.

11 Vgl. Wilhem Kopper, „ Professor Pater Wilhem Schmidt †: Eine Würdigung seines wissenschaftlichen Lebenswerkes “, Zeitschrift für Ethnologie 79, 1954, 243-253. – Hier ist vermutlich gemeint Schmidt, Die Gliederung der australischen Sprachen: geograph., bibliograph., linguist. Grundzüge d. Erforschung d. austral. Sprachen, [St. Gabriel b. Mödling]: [Selbstverl.], 1919.

12 Hier stimmt der Satzbau nicht!

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 04703)