Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (095-03443)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Tschernowitz

28. 11. 1892

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätspolitik Junggrammatiker Sprachen in Mexiko Literaturblatt für germanische und romanische Philologielanguage Rätoromanische Sprachenlanguage Rumänischlanguage Ukrainischlanguage Polnischlanguage Französischlanguage Italienischlanguage Spanisch Mussafia, Adolf Minor, Jacob Wustmann, Gustav Schuchardt, Hugo (1892)

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (095-03443). Tschernowitz, 28. 11. 1892. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6598, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6598.


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Verehrter Freund!

Im October habe ich Ihnen nicht geschrieben, weil Sie, wenn ich recht unterrichtet bin, nicht in Graz waren, im November bis heute auch nicht, weil ich von einem Tag auf den andern auf den zweiten Theil meiner Abhandlung über Erto1 wartete. Nun wird es mir doch schon zu lange; denn ich habe einiges auf dem Herzen.

Zunächst würde ich am liebsten mit Ihnen über Ihren wertvollen Aufsatz im Septemberheft des Litbl. plaudern;2 aber da ich die Feder in die Hand nehme, sehe ich erst, dass die Sache auf brieflichem Wege doch zu ausführlich sein, also zu weitläufig werden müsste. Kurz kann ich mich fassen, um den psychologischen Erfolg meiner ersten Lesung zu bezeichnen: Entmuthigung. Später erst klammerte ich mich allmählich an der Meinung empor, dass Ihr Urtheil über die Leistung der rom. Philologie und über den Wert der bloß guten Monographien zu streng ist. Wie werden Sie von meiner Arbeit über Erto denken? Die Lautgesetze oder -regeln sind nur, durch Gedankenstriche und Strichpunkte voneinander geschieden, an Beispielen vorgeführt und registriert; bloß ausnahmsweise ist hie und da ein Fall zu erklären gesucht. Auch die Formenlehre ist großentheils nichts weiter als ein trockener Sprachbericht. Im Wörterverzeichnis werden ein paar ältere etym. Ableitungen angefochten, aber im ganzen recht wenig Neues zutage gefördert. Der Text ist viel |2| besser als der bei Pirona, aber die Verbesserung in der Methode ist eben doch nur Pirona (1871)3 gegenüber eine Verbesserung. Neu ist die durch Lautlehre, Formenlehre und Wörterverzeichnis hindurchgehende stete Vergleichung mit den Nachbarmundarten vom obern Avisio bis zum adriatischen Meer und der im letzten Abschnitte vorgenommene Versuch, die Stellung der Mundart von Erto zu bestimmen auf Grund einer Art Statistik der Ähnlichkeiten zwischen Erto und den verschiedenen Nachbarmundarten und auf Grund einer Abschätzung der Verkehrsintensität. Neu ist vielleicht auch der an mehreren Stellen ausgesprochene Grundsatz, dass lautmalende Wörter und Kinderwörter in der Lautform conservativer sind als sonst die Lautgesetze*) verlangen. Doch was mir neu ist, kann Ihnen, der Sie länger, mehr und besser studiert haben, schon bekannt sein. Mir ist es schon passiert, dass ich eine von mir aufgestellte Erklärung in einem ältern Buche gefunden habe und dann nicht wusste, ob meine Erklärung daher entnommen war oder nicht. Manche, mehr allgemeine Erkenntnisse liegen, so zu sagen, in der Luft, so dass dann vielleicht nur ein Zufall bestimmt, wem die Vaterschaft zugesprochen wird. Kurz, ich gestehe, dass ich schon aus solchen äußerlichen Gründen nicht im Stande bin, nach Ihrem strengen Kriterium meine und Anderer Arbeiten abzuschätzen, und daher bei meinem bescheidenen Maßstabe bleiben muss, der nicht nur die Fortschritte in |3| der Methode, sondern auch jede Erweiterung unsrer Kenntnisse durch richtige Anwendung der schon bekannten Methoden sorgsam ausmisst.

Während meines kurzen Aufenthaltes in Wien vor acht Wochen besuchte ich Mussafia und fragte ihn um Rath wegen des Planes, den ich in Freistadt4 ausgeheckt hatte, nämlich für das Jahr 1893-4 Urlaub zu nehmen und in Venetien zu forschen; ich hatte aber noch gar nicht gesagt, was ich dort machen wollte, als er mich nach einer andern Richtung hin sandte. Er habe mit Ihnen über mich gesprochen; Sie hätten beide die Absicht, mir aus meinem Fegefeuer beizeiten herauszuhelfen (er sagte auch ungefähr, auf welchem Wege), nur sollte ich jetzt einmal etwas Französisches arbeiten. Es versteht sich von selbst, dass ich mit innigem Dank die rettenden Hände ergreife. Ich gieng sofort ins Ministerium und kündigte an, dass ich einen Urlaub für 1893-4 möchte, um in Frankreich Studien zu machen. Man rieth mir dort, zunächst (vor Mitte Januar 93) um einen halbjährigen Urlaub zu bitten, weil den das Ministerium selbst bewilligen könne; im Frühjahr 1894 könne er dann um ½ Jahr verlängert werden. Auch um eine Unterstützung von 600 fl könne ich zugleich einkommen. Leider hatte ich keine Zeit zu überlegen und mit M. zu besprechen, was für eine Arbeit ich unternehmen soll – übrigens gestehe ich, die Hauptsache ist für mich, dass ich einmal längere Zeit unter Franzosen (nach meinem ursprünglichen Plane unter Italienern) lebe; denn es wird mir ganz schwummerlich, wenn ich |4| bedenke, wie wenig romanisch ich seit 1885 höre und spreche. Ich höre um mich herum nichts als deutsch, ruthenisch und polnisch, fast nichts rumänisches, gar nichts frz., it., sp. … Französische und rumänische Conversation könnte ich mir zwar verschaffen – aber ich bin zu arm dazu. (Denken Sie nur, ich habe in den 7 Jahren meines Hierseins 1008 1/3 fl weniger bezogen, als ich inzwischen in Wien bezogen hätte, wenn ich an der Unterrealschule geblieben wäre; und eine kleine Familie habe ich auch zu erhalten.) Im Herbst 1891 miethete ich einen Studenten, der mich täglich 1 Stunde über seine rum. Mundart zu unterrichten hatte (nach ein paar Wochen will ich das Lautliche an Ort und Stelle sicherstellen, dann die Sache bearbeiten);5 aber da wir uns beide besser auf Deutsch verständigten, kam es auch da zu keiner rum. Conversation. Mein Plan also wäre nun, im nächsten Herbst sammt Familie nach Frankreich zu fahren und den Winter oder ein ganzes Jahr in Paris selbst zu leben. Da gibt es natürlich unendlich viele Studien, die ich in Paris oder in Frankreich innerhalb eines Jahres anstellen könnte und wollte; aber eben weil mir die Wahl schwer fällt, wäre mir ein Anstoß von außen sehr lieb. Sie werden vielleicht meinen, es läge mir näher, bei Mussafia anzufragen; da muss ich Ihnen aber eine Beobachtung anvertrauen: M. erwidert nicht alle meine |5| Briefe, u. z. gerade die nicht, worin ich ihn um irgend etwas bitte oder frage. Seien Sie daher nicht böse, wenn ich Sie um einen Vorschlag bitte, was ich in Frankreich hauptsächlich unternehmen, oder was ich als Hauptzweck meiner Reise in meinem Gesuche nennen soll.

Die Art, wie Minor über Wustmann spricht,6 hat mich empört, so dass ich eben mit Vergnügen eine mir vom Sprachverein gebotene Gelegenheit ergriffen habe, um den Übermuth des jungen Herrn zu dämpfen. Ein Abdruck folgt alsbald.7

Ich bitte Sie, mir meinen langen und unbescheidenen Brief zu verzeihen. Mit dem herzlichsten Gruße

Ihr
Gartner.
Czernowitz, 28. November 1892.

*) Auch in der leblosen Natur gibt es solche „Ausnahmen“, wie z.B. die Wolken (die nicht herunterfallen), das Wasser (das sich von 0° bis zu -4° C nicht zusammenzieht, sondern sogar ausdehnt).


1 Vgl. Brief 03439.

2 Schuchardt, „[Rez. von:] Passy, Paul, licencié ès-lettres, professeur de langues vivantes, Étude sur les changements phonétiques et leurs caractères généraux; Rousselot, l’abbé, Les modifications phonétiques du langage étudiées dans le patois d'une famille de Cellefrouin (Charente). Première partie“, Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 13, 1892, 303-315.

3 Vgl. 03476.

4 Vgl. 03444.

5 Vgl. Gartner, „ Fünf rumänische Mundarten der Bukowina “, ZrP 26, 1902, 230-242. Hier nennt er als Gewährsleute Stephan Draczynski, Leiter des Gymnasiums in Suczawa, Dionys Simionowicz, Realschule in Czernowitz, und Georg Filimon.

6 Jacob Minor, Allerhand Sprachgrobheiten. Eine höfliche Entgegnung, Stuttgart: Cotta, 1892. Im Vorwort heißt es: „Diese Entgegnung auf G. Wustmanns ,Allerhand Sprachdummheiten‘ war zuerst in der Wiener Zeitung (Donnerstag, den 7. April 1892, Nr.80; Freitag, den 8. April, Nr. 81; Samstag, den 9. April, Nr. 82) gedruckt. Auf Vorschlag des Herrn Dr. A. Bettelheim hat mich die Verlagshandlung aufgefordert, einen Separatabdruck zu veranstalten. Indem ich dieser Aufforderung folge, will ich meinen Ausführungen nur eine größere Verbreitung sichern, nicht aber den Charakter eines geschlossenen Buches aufdrücken. Zu viel könnte hier leicht zu wenig sein“.

7 Gartner, Urtheile über Wustmann. Ein Vortrag, Czernowitz: Schally, 1892.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03443)