Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (086-03433)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Tschernowitz

02. 03. 1890

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätspolitik Verlag Karl J. Trübner Hölder Verlag Zeitschrift für österreichische Gymnasienlanguage Albanischlanguage Rumänischlanguage Ruthenischlanguage Portugiesischbasierte Kreolsprachen (São Tomé)language Malaiisch Mussafia, Adolf Meyer-Lübke, Wilhelm Cornu, Julius

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (086-03433). Tschernowitz, 02. 03. 1890. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6589, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6589.


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Verehrter Freund!

Bald nachdem Ihre freundliche Karte vom 10. Januar in meine Hände gelangt war, begann für mich eine Reihe trüber Tage und Wochen, indem ich selbst sammt Frau und Töchterchen1 abwechselnd mit katarrhalischen Leiden zu kämpfen hatte. Damit bitte ich zu entschuldigen, dass ich so lange mit der Erwiderung im Rückstande bin. Mittlerweile waren Sie so gütig, mir dennoch wieder einen Brief und Nachtrag zu schreiben. Ich danke Ihnen bestens dafür und gehe nun daran, alle drei Stücke zu erwidern.

Mit großer Freude habe ich von Ihnen vernommen, dass G. Meyer ein Alban. Wtb. fertig hat;2 jetzt wird man doch eine |2| bequeme und verlässliche Brücke haben, um in diese fürs Rumän. so wichtige Sprache eindringen zu können.

Was mein, oder besser gesagt unser Ruth. Wtb. betrifft, so muss ich etwas weitläufig werden, um zu sagen, wie es darum steht. Gleich als wir uns den Plan zur Einrichtung des Buches zurechtlegten, erkannten wir, dass wir, da wir selbstverständlich die Flexion der ruth. Wörter angeben wollen, zunächst alle ruth. Flexionsarten und -abarten zusammenstellen, ordnen und mit Zahlen versehen müssen. Da nun einmal eine Flexionslehre gemacht war, konnten wir uns nicht enthalten, auch die anderen Theile der ruth. Gramm. zu bearbeiten; denn das Bedürfnis nach einer brauchbaren ruth. Gramm. ist wohl noch größer und dringender als das nach einem dt.-ruth. Wtb. Als dann vor zwei Jahren die Gramm. (mit zweisprachigem Texte) fast fertig schien, sahen wir uns nach einem Verleger um – aber vergebens. Trübner in Str., Holder |3| in Wien und Pardini in Czernowitz3 lehnten mit ungefähr gleicher Begründung ab: 1.) die Absatzfähigkeit sei solange unberechenbar, als das Ministerium noch nicht über die (von uns beantragte) Einführung der phonet. Orthographie als Schulorthographie entschieden habe,4 2.) in Galizien, wo der größte Absatz zu erwarten ist, sei der Buchhandel zu wenig verlässlich. Später wandten wir uns an das Ministerium um Unterstützung behufs Drucklegung der Gramm., und im vorigen Juli wiederholten wir unsre Bitte mit Anführung neuer Gründe, insbesondere des Grundes, dass die eben erschienene Ruth. Gramm. von Ogonowski gänzlich unbrauchbar sei.5 (Die Kritik hierüber ist die Ihnen bekannte, nachher in der Zs. f. d. östr. Gymn. veröffentlichte Besprechung.)6 Das Ministerium hat bis heute noch nicht geantwortet, vermuthlich weil es in der Orthographiefrage, die einen polit. Beigeschmack hat, noch nicht entscheiden wollte, schließlich vielleicht auch deshalb, |4| weil das Budget noch nicht bewilligt ist. Unterdessen hatten wir Zeit, an der Gramm. sehr vieles zu verbessern und noch mehr zu vervollständigen.7 Die Flexionslehre enthält mehr als 9000 flexible Wörter. Zufolge des stetigen Anwachsens auf der einen Seite suchten wir andrerseits zu kürzen (z. B. die Übersetzung der behandelten Wörter wegzulassen …), schließlich – vor ungefähr 10 Wochen – beschlossen wir, die beiden Wörterverzeichnisse (ruth.-deutsch mit den Verweisungen und deutsch-ruth.) von der Gramm. zu trennen und als ein kleines Schulwörterbuch gesondert zu drucken. Im ruth.-dt. Theile wird bei den ruth. Wörtern auf unsre Gramm. verwiesen, im dt.-ruth. Theile bei den deutschen Wörtern auf eine dem Wtb. beizugebende bloß paradigmatische Flexionslehre des Deutschen verwiesen. An der Gramm. werden wir bald nichts mehr zu bessern wissen; das kleine Wtb. wird uns noch länger beschäftigen. Vielleicht thut mittlerweile das Ministerium den Mund und die Hand auf.

Also bis zum Malaiischen reicht schon Ihre |5| Herrschaft! Da werden Sie am Ende noch auf den Standpunkt weiland Alexanders kommen und klagen müssen, dass Ihnen nichts mehr zu erobern übrig bleibt. Mit welcher Geschwindigkeit Sie in völlig neue Sprachgebiete eindringen, ist wirklich wunderbar.

Was Sie mir über Wien mittheilen, hat mich überrascht, aber nicht in dem Sinne, wie Sie meinen werden: Die Thatsachen waren mir nämlich schon lange bekannt; aber dass Sie nicht wenigstens ebensolange dasselbe wissen, ist mir nicht recht begreiflich. Dass M. an den Ruhestand nicht mehr denkt,8 hat er mir mündlich (also wahrscheinlich im Herbste 87) mitgetheilt (ob ausdrücklich, oder nur implicite, weiß ich mich nicht zu erinnern). Die Neuigkeit über W. M.-L. schrieb er mir vor oder kurz |6| nach Neujahr (ich finde den Brief augenblicklich nicht) unter dem Siegel der Verschwiegenheit.9 Ich freute mich sehr darüber, dass wir eine solche Kraft nach Österreich bekommen, und sagte natürlich keiner Seele ein Wort davon. Dass ich aber durch meine Verschwiegenheit auch Ihnen eine Neuigkeit vorenthalten könnte, hätte ich mir nicht träumen lassen. Ich würde Ihnen ruhig darüber geschrieben haben, in der Meinung, Ihnen dardurch nichts Neues sagen zu können.

Was die Anwartschaften anlangt, lässt mich die Sache ganz kalt. Von Ihnen sagte mir einmal M., dass Sie nicht von Graz weg wollen; ich begreife das, obwohl ich, als Wiener, anders dächte. Von Cornu10 weiß ich nichts weiter, aber er scheint gleichfalls sehr fest zu sitzen. Auf Innsbruck warten zwei Tiroler,11 deren Concurrenz ich außerhalb Tirols freilich nicht zu |7| fürchten hätte. Meine einzige, vielleicht auch noch sanguinische, Hoffnung ist die, dass die himmelschreiende Ungerechtigkeit der Bezahlung der Un.-Professoren bald beseitigt wird. Wenn ich dann beim Scheiden dieses Jahrhundertes noch in Cz. hocke, so gehe ich in Pension, damit meine Kinder nicht in diesem verlumpten Lande aufwachsen müssen.

Nun habe ich Ihnen schon zuviel Zeit geraubt, ich schließe und grüße Sie aufs herzlichste.

Ihr

Gartner
Czernowitz, 2. März 1890.


1 Hermine Therese Gartner, geb. 1888 in Czernowitz, gest. 1921 Bozen.

2 Gustav Meyer, Etymologisches Wörterbuch der albanesischen Sprache, Straßburg: Trübner, 1891.

3 Karl I. Trübner in Straßburg; Alfred Holder in Wien; Heinrich Pardini in Czernowitz.

4 Vgl. Kathleen Beger, Untersuchungen zur Kodifizierung des Ukrainischen: Rechtschreibreformen und ihre Umsetzung in Galizien zwischen 1919 und 1938, Wien-Berlin-Münster: LIT, 2014 (Slavische Sprachgeschichte; Bd. 8), bes. 85f.

5 Omeljan Ohonov‘skii (= Emil Ogonowski), Hramatyka ruz‘ koho iazýka, Lemberg 1889 (= Ruthenische Grammatik für Mittelschulen).

6 Gemeinschaftsbesprechung von Smal-Stocki u. Gartner, Z. f. d. ö. Gymn.1889, 1025-1036 (fehlt in Plangg / Iliescu). Die Bespr. endet: „Ein großes Verdienst der Grammatik von Ogonowski und zugleich ein großer Vorzug derselben vor jener von Osadca besteht darin, dass sie in einem reinen, correcten Ruthenisch geschrieben ist. Hätte er doch die Sprache, deren er sich selbst bedient, in seiner Grammatik auch gelehrt!“

7 Diese ist jedoch erst 1913 erschienen: Stepan Smal‘-Stoc’kyj / Theodor Gartner, Grammatik der ruthenischen (ukrainischen) Sprache, Wien: Buchh. d. Szewczenko-Gesellsch. d. Wiss. in Lemberg, 1913.

8 Mussafia hatte Schuchardt sogar vorgeschlagen, mit ihm den Grazer Lehrstuhl gegen den Wiener zu tauschen.

9 Wilhelm Meyer-Lübke wurde 1890 von Jena nach Wien berufen.

10 Jules Cornu (1849-1919) war von 1877 bis 1901 Nachfolger von Wendelin Foerster in Prag.

11 Wolfram Zingerle (1854-1913), geb. in Innsbruck, seit 1876 Priv.-Doz. in Innsbruck; der zweite ist vermutlich Giovanni Battista Alton (1845-1900), der 1870 in Innsbruck romanistisch promoviert hatte.

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