Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (081-03428)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Tschernowitz

20. 11. 1887

language Deutsch

Schlagwörter: Phonetik Böhmer, Eduard Sachs, Karl

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (081-03428). Tschernowitz, 20. 11. 1887. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6584, abgerufen am 10. 10. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6584.


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Verehrter Herr College!

Was mir zur Beantwortung Ihrer Frage vom 16. v. M. fehlte, waren zwei Dinge: ein ruhiger Kopf und eine Notiz über Lautphysiologisches von Böhmer. Das letztere habe ich zwar auch heute noch nicht gefunden, wohl aber das erstere; und da finde ich bei abermaliger Durchlesung Ihres werten Briefes, dass Sie gerade dieselben Schwierigkeiten oder Bedenken gegenüber den üblichen s- und š-Eintheilungen haben, wie ich. Wenn ich irgendwie ein s versuche und dieses wie ein š klingt, so weiß ich nicht, soll ich das physiologisch (als s) oder akustisch (als š) auffassen. Wenn man übrigens, meine ich, nur eben meldet, wie man ein s zu bilden sich anschickt, und dass der Schall ein š-artiger ist, so ist die Sache klar genug: die Classifizierung hat nur „akademischen“ Wert. Bei den Nasalvocalen bin ich in |2| [in, doppelt gesetzt] derselben Verlegenheit: frz. en, an wird ein nasales a genannt; Sachs bezeichnet es sogar als ein nasales offenes a; akustisch aber möchte ich es viel eher mit ǫ wiedergeben, als mit ą (Sachs).1 Viele en, an der Schauspieler habe ich als on aufgefasst und dann erst dem Sinne nach in meinem Kopfe rectificieren müssen. Von den Nasalen kann man auch ähnlich wie von den š-Lauten sagen: sie werden immer etwas weiter hinten articuliert.

Auch die Bildung eines „cerebralen“ (ein grässlicher Name!) s mit dem Zungenblatte bei zurückgebogener Zungenspitze habe ich nie begriffen. Einen s-Laut kann ich so nicht hervorbringen, wohl aber ein š-Gezisch. Beim südd. sch dürfte die Zungenspitze nichts berühren; übrigens weiß ich nicht, wie man eine so subtile Modalität der Lautbildung mit solcher Bestimmtheit von 10-20 Millionen Menschen behaupten kann. Ich kann |3| das sch mit gesenkter und mit an die Alveolen genäherter Zungenspitze aussprechen und weiß von mir selbst nicht, was bei mir das gewöhnliche ist.

Klingt das bask. š? viel verschieden von dem š (= s) der Venezianer, Süttiroler und Catalanen? Von den Catalanen habe ich allerdings erst ein einziges Exemplar (span.) gesprochen (in Wien); aber auch Halatschka2 (der bei dieser Unterredung zugegen war) sagte sofort, dass das dasselbe s (š) sei, wie es die Poleser haben (Hal. war 2, 3 Jahre in Pola). Dieses š bilde ich, indem ich, wie beim s, die Zungenspitze an die Alveolen bringe, aber nur nachlässig, so dass nicht die Zungenspitze, mathematisch genommen, sondern eine kleine Fläche dahinter (Zungenblatt) zur Engenbildung herangezogen ist; das Geräusch ist ein Mittelding zwischen dem s und dem gewöhnlichen š, also ein š von geringer Breite (und geringer Energie).

Die Papiere, die meine bisherigen Bukowiner phon. Studien enthalten, sind mir noch nicht in die Hände gerathen: sie liegen in einem Koffer Schriften, der noch der Auspackung harrt.

Seien Sie nur nicht böse, dass ich diesmal so nachlässig in der Correspondenz war; es soll nicht mehr vorkommen.

Mit herzlichem Gruße Ihr
Gartner
Cz., 20. Nov. 87.


1 Beide Vokale mit Nasalierungstilde.

2 Vgl. Brief 03350.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03428)