Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (070-03417)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Tschernowitz

22. 05. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Etymologie Phonologie Sprachen in Tunesien Magyar Nyelvör Revue critique d'histoire et de littératurelanguage Lingua franca (Ägypten) Kałužniacki, Emil Dal, Wladimir Iwanowitsch Petruszewicz, Antoni Miklosich, Franz von Schuchardt, Hugo (1886)

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (070-03417). Tschernowitz, 22. 05. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6573, abgerufen am 01. 10. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6573.


|1|

Verehrter Herr College!

Was die Lautverhältnisse betrifft, wandte ich mich heute an Kał.1 und erhielt folgende Antworten auf meine Fragen:

Die Palatalisierung eines K vor -унъ sei allerdings lautlich unbegründet, aber dergleichen komme in der Wortbildung nicht gar so selten vor („parasitisches Umsichgreifen des ь“). Aus ursprachl. -AR- könne russ. (hiermit ist hier immer gross- u. klein-russ. gemeint) sowohl -epe- als -opo werden, aber nicht willkührlich: sondern -epe-, wo poln. -re-, aslov., serb., tsch. -pε- (-ře-) wird, hingegen -opo-, wo poln. -ro-, aslov., serb., tsch. -pa- (-ra-) wird. Folglich sind die zwei Formen kepeчyнъ und kopo- nicht vereinbarlich (Kał. zweifelt übrigens an dem Bestande des von Petr. angeführten kleinr. kepe-). |2| Ebensowenig könne russ. kopoчyнъ und kapaчyнъ neben einander bestehen; wahrscheinlich habe Дaль (ein gramm. ungeschulter Sammler)2 nur aus Unkenntnis die unorthograph. aber phonetisch wahre Form kapaчyнъ gebraucht und sogar der anderen (kopo-) vorgezogen, indem er auf das Schlagwort kapa- verweist. Das bulg. kračun stimme vollkommen zu einem russ. kopoчyнъ, das würde auf die Wurzel kpaш (kurz) führen (oder auf *kpak, was aber nichts heisse). Die Przemysler Form kpyчyнъ passe zu keiner jener anderen.

Kał. ist sehr mistrauisch gegen die Angaben von Dal, Petruszewicz3 – was mir zur Befriedigung gereichte (vide U.-Hr. Gymn.).

|3| Als Beispiele für obige zwei Entwicklungen eines ursprachl. -AR- gab er mir 1.) asl.4 Бpѣгъ, poln. brzeg, russ. Бepeгъ, 2.) asl. Бpaгa, poln. broda, russ. Бopoga. (Die von Mikl. zwischen Ursprache u. Slavisch gestellten urslavischen Formen (-er- und -or-) nimmt Kał. nicht an.)

Ich werde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie mir ein Ex. Ihrer Erwidrung5 (wenigstens leihweise) verschaffen; wir hier haben nicht den Nyelvőr – nicht einmal die Revue critique u.a.

Mir freundlichem Grusse

Ihr ergebener

Gartner
Cz., 22. Mai 86 abd.


1 Emil Kałużniacki, vgl. Brief 03412.

2 Vgl. Brief 03411.

3 Anton Petruševyč (Petruszewicz; 1821-1913), russ. Philologe.

4 altkirchenslavisch.

5 Schuchardt, „Zu meiner Schrift ,Slawo-deutsches und Slawo-italienisches‘ II“, Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien 37, 1886, 321-352. – nyelvör???

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03417)