Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (055-03402)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Tschernowitz

02. 01. 1886

language Deutsch

Schlagwörter: Kondolenzschreiben Todesfälle Erwiderung Junggrammatiker Phonologielanguage Langue bleue (Bolak) Müller, Friedrich Schuchardt, Hugo (1885)

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (055-03402). Tschernowitz, 02. 01. 1886. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6558, abgerufen am 21. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6558.


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Verehrter Herr College!

Ich habe vor einigen Jahren an mir selber erlebt, was Sie vor einigen Tagen erlitten haben1 und weiss, wie wenig da der Trost gilt, den, später, aber eben erst später der Gedanken gewährt, dass ja ganz ordnungsgemäss der Sohn der überlebende Theil ist. Als ich daher Ihre gütige Nachricht aus Gotha erhielt, fühlte ich Ihren Schmerz aufrichtig mit, und ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie mich so in einen engeren Kreis von Ihrigen aufgenommen haben.

Das Büchlein, für das ich Ihnen innig danke,2 hat mich sehr überrascht. In meiner Antrittsvorlesung habe ich mich schlankweg als einen Junggrammatiker vorgestellt, allerdings ohne dieses hässliche Wort zu gebrauchen; von Ihnen hätte ich nie geahnt, dass Sie in diesem Stück ein Gegner von mir seien. Nach der Überraschung durch den Titel „Gegen die Junggrammatiker“ musste ich Überraschungen im Inhalte gewärtigen; ich hatte aber nur die eine |2| Überraschung, dass mein Gegner durchweg meiner Meinung ist. Dass absichtliche Lautnachäffung anderso als bei einer sehr entwickelten Gebildetensprache, und selbst da eine über Einzelheiten hinausgehende Einwirkung auf eine Sprache haben könnte, hatte ich allerdings nicht geglaubt; allein das ändert nichts an meiner, d. h. unserer Anschauung von Sprachentwicklung im Grossen und Ganzen. Dass die Gesetze des Lautwandels absolut keine Ausnahme erleiden, kann doch niemand behaupten: auch die Junggrammatiker geben zu, dass die Analogie hie und da siegt, dass der Lautwandel nicht über Nacht perfect ist, dass Mischsprachen nicht plötzlich auftauchen, dass die Sprachgrenzen nicht scharfe Linien sind, dass stehende Redensarten u. sog. Formwörter stärkeren Verkürzungen ausgesetzt sind, dass Bücher- und heilige Wörter lautlich mehr geschont werden, dass anderseits Fremd- und heilige Wörter (die letztern wegen des 3. Gebotes Moses) starken Entstellungen |3| ausgesetzt sind, dass die Volksetymologie (also wieder ein[e] Art Analogie) ihren Spuk treibt; wer könnte all das läugnen? Aber erscheint denn nicht die Macht der Lautgesetze in um so grösserer Glorie, wenn sie trotz all dem in jedem Bauerndialekt so wunderbar waltet! Nein, ich verstehe nicht, worin wir eigentlich auseinandergehen. Die Ursächlichkeit, also die Naturwissenschaftlichkeit hielt ich für das Kriterium der neuen Sprachwissenschaft: es gibt Gesetze des Lautwandels, die Gesetzmässigkeit wird nur eben durch das Einwirken anderer Gesetze oder Kräfte manchmal gestört, aber nie ohne Ursache, auch da nicht ohne Ursache, wo wir diese nicht einsehen. Mit einem Worte: Ursächlichkeit. Haben denn je „Junggrammatiker“ mehr verlangt? Dann bin ich kein „Junggrammatiker“. Aber freilich F. Müllers Modentheorie3 habe ich in Techmers Zts.4 (mit persönlichem Bedauern) belächeln müssen. Recht schön ist es, wie Sie unsre Lautgesetzlehre ergänzen und ausbauen, indem Sie an die Aufdringlichkeit häufiger Lautcomplexe (pièta)5 hinweisen, auf das allmähliche Fortschreiten und Umsichgreifen lautlicher Änderungen, darauf |4| wie die Häufigkeit eines Wortes als eine Function in die Lautgesetzformel einzuführen sei u.s.w., u.s.w., lauter schöne, recht schöne Sachen, die ich mich ausserordentlich freue so klar dargestellt und gesammelt zu sehen.

Verzeihen Sie, dass ich so viel über einen Punkt der Geschichte unsrer Wissenschaft rede, den ich, wie mir nun scheinen muss, nicht genug studiert habe. Mir kommt nun vor, als hätte ich mich in die verschiedenen Bücher und Abhandlungen nicht hineingelesen, sondern darin immer nur mich selbst herausgelesen.

Mit herzlichem Grusse

Ihr

ergebener

Gartner
Czernowitz, 2. Jan. 86.

Ich war diese Tage in Suczawa6 und habe da manches Lautliches mit Dir. Draczinski7 besprochen. Auch habe ich gefunden, dass Dr. nicht (wie ich Ihnen einmal schrieb) deutsches VocngVoc ohne ɳ ausspricht, sondern mit g, z.B. bríƞgẹn (während ich priƞœn sage).


1 Tod des Vaters; Ernst Julius Schuchardt war am 2.12.1885 verstorben; Gartners Vater Anton Leopold war bereits 1872 mit 69 Jahren verstorben.

2 Schuchardt, Ueber die Lautgesetze. Gegen die Junggrammatiker, Berlin: Oppenheim, 1885.

3 Friedrich Müller (1834-1898), Indogermanist, Sprachwissenschaftler.

4 Internationale Zeitschrift für allgemeine Sprachwissenschaft 1, 1884, 211-214 (Müller, „Sind die Lautgesetze Naturgesetze?“).

5 Vgl. Schuchardt, Ueber die Lautgesetze, 7f.

6 Rum. Suceava, dt. Suczawa, Sotschen, Stadt in der Südhälfte der Bukowina.

7 Vermutlich der Suczawaer Erzpriester Epaminondas Draczynski.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03402)