Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (045-03391)

von Theodor Gartner

an Hugo Schuchardt

Wien

25. 01. 1885

language Deutsch

Schlagwörter: Universitätspolitik Gebr. Henninger Universität Czernowitz Universität Innsbrucklanguage Rätoromanische Sprachen Lundell, Johan August Diez, Friedrich Stengel, Edmund Ascoli, Graziadio Isaia Boehmer, Eduard Böttiger, Carl Wilhelm Mussafia, Adolf Zingerle, Wolfram Strobl, Josef Graz Ascoli, Graziadio Isaia (1873)

Zitiervorschlag: Theodor Gartner an Hugo Schuchardt (045-03391). Wien, 25. 01. 1885. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6547, abgerufen am 22. 09. 2023. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6547.


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Verehrter Herr Professor!

Lundell berichtet,1 wo rätoromansk gesprochen wird und wer, abgesehen von wenigen bedeutenden Gelehrten, darüber geschrieben hat (er nennt Diez, Stengel, Schuchardt, Ascoli und Böhmer, ferner natürlich auch den Schweden Böttiger).2 Über die grosse Mannigfaltigkeit dieser Mundarten u.s.w. Dann meldet er, auf welcher Grundlage ich das Buch gemacht habe und was darin zu finden ist. Dabei bemerkt er, es sei wahr, was ich von den dialekt. Litteraturen sagte, „dass fast jeder Schriftsteller künstelt“. Denn Orthographien seien in der That unverlässlich. „Hingegen hätte G. mit gutem Gewissen seine Arbeit mit den (in den Saggi lad.3 mit MR bezeichneten) Beobachtungen bereichern können“*). In materieller Hinsicht bezeichne meine Gramm. natürlich einen grossen Fortschritt gegenüber den Saggi lad. Meine Zeichen für die Dialekte und dial. Schriften (Fraktur -a -z mit Indices) ist ihm unbequem; er hätte gern auf diese Kürze verzichtet und dann für das doppelt so dicke Buch doppelt soviel bezahlt. (Wer so boshaft wäre, |2| daraus zu schliessen, dass L. ein Recensionsexemplar bekommen habe, dürfte sich täuschen; denn ich habe ihm keines geschickt und Gebr. Henninger vermuthlich auch nicht – wer kennt die Nordisk Revy?). Komisch ist die Äußerung, meine seitenlangen Sammlungen von Verbalformen aus Büchern böten eine nicht gar „behaglig lektyr“. Zur phonetischen Schreibung: die Genauigkeit sei nach meinem eigenen Geständnisse nur mässig; dass eine grössere Genauigkeit zu individuellen Eigenheiten führe, sei keine giltige Entschuldigung; ich hätte die Articulationsstelle des r nicht untersucht; ich spräche von einem „b mit w vermengt“ (ein Misverständnis: nicht zu einem Laute vermengt werden b und v an einzelnen Stellen der Grenze gegen das Deutsche, sondern die Leute vermengen sie, indem sie nicht consequent zwischen beiden Lauten unterscheiden.); die Darstellung, dass d zwischen n und r eine Epenthese zur Erleichterung der Aussprache sei, nennt L. veraltet, ebenso die Meinung, dass die Diphthongierung den Zweck der Deutlichkeit haben könne (Dafür möchte ich selbst recht gerne eine bessere Deutung hören.).

Als Sie mir vor einigen Tagen schrieben, dass Sie Mussafias Votum nicht kennten, fragte ich M., ob er Ihnen darüber schreiben wollte, und da er dies bejahte, schwieg ich Ihnen gegenüber darüber. Durch |3| Ihren letzten Brief aber, für den ich Ihnen wieder recht viel Dank schulde, finde ich mich veranlasst, Ihnen die nicht gerade lustige, aber in einer Einzelheit, die Ihnen Muss. nicht mittheilen dürfte, doch auch komische Geschichte selbst erzählen. Nach Ihrer ersten Mittheilung über Cz. ging ich zu M. (als gerade mein Tag war) und wollte ihm natürlich die Sensationsnachricht reportieren. Bei meinem Eintritt in sein Zimmer begrüsste er mich „Guten Abend, Herr Professor“, ich erwiederte, wie wenn ich den Sinn der scherzhaft ceremoniösen Begrüssung nicht verstünde, ebenso förmlich „Guten Abend, Herr Hofrath“. Ich merkte nämlich gleich, dass er so herausbringen wollte, ob ich von Ihrem Vorschlage wüsste,4 und das verstimmte mich. Als ich dann nach einigen Minuten genug Muth fand, die Sache vorzubringen, hörten wir, dass ein Herr angekommen war. Es war Miklosich, und dieser blieb den ganzen Abend dort. Unter anderm sprach Muss. auch von Cz.; er sei der Ansicht, dass jene Universität eine solche Lehrkanzel nicht brauche, Candidaten gäbe es zwar genug dafür – in Deutschland; denn hier beschäftige man sich nur mit Rätoromanischem – aber man solle in Cz. einen Privatdocenten aufnehmen, DrWolfram Zingerle,5 und wenn sich der bewährte, so könnte man ihn nach 2 Jahren zum Professor ernennen. Sie begreifen, |4| dass ich, in Gegenwart der dritten Person, gründlich weiter schwieg. Den nächsten Tag hatte ich wieder Anlass, Muss. zu besuchen; da berichtete ich ihm die „Neuigkeit“ von Graz. „Sie werden sagen, Sch. sorgt besser für Sie als ich“; ich lächelte, liess ihn ein paar Secunden diesen Gedanken ertragen, dann erwiderte ich: „Nein, sondern dass mich Sch. weniger kennt als Sie.“ In der That verdenke ich es M. gar nicht; denn er wusste, dass ich selbst an die akad. Laufbahn kaum noch dachte. Freilich wollte ich nur eben von einer Wiener Privatdocentur nichts wissen, weil es mir unmöglich ist, solange ich Realschullehrer bleiben muss, ordentliche Vorlesungen auszuarbeiten; an Cz. konnte ich nicht denken. Dann sagte er nichts oder nicht viel, er hatte nämlich heftige Schmerzen und zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Ein paar Tage darauf bat er mich zu sich und las mir den Brief vor, den er (durch die Hand seiner Frau) an Prof. Strobel6 in Cz. geschrieben hatte. Darin sagte er, nach seiner Meinung sollte man vorläufig die Habilitierung W. Zingerles auf Cz. übertragen u.s.w. Nun höre er aber, dass von andrer Seite Gartner vorgeschlagen worden sei, damit sei er einverstanden und nun lobt er mich über den grünen Klee. Dass ich über Afr. noch nichts veröffentlicht habe, sei kein Hindernis; denn das sei auch bei einem anderen so gewesen, auf dessen Nominierung er jetzt stolz sei. |5| Schliesslich fragte er mich, ob ich wünsche, dass er die Stelle über W. Z. weglasse. Ich verstand ganz wohl, dass ich ihm eine Art Beruhigung vor seinem forum internum und gegenüber dem Vater W. Z.s7 rauben würde, auch wäre es gegen die Frau M. grausam gewesen, wenn ich sie den verkürzten und doch noch recht langen Brief noch einmal hätte schreiben lassen, daher erklärte ich mich ohne weiteres für einverstanden und übergab den Brief der Post. Offenbar kommt es da mehr darauf an, was Muss. mündlich im Ministerium vorbringt, um zur Besetzung der Stelle zu rathen oder davon abzurathen; denn wer wird in Cz für die Verstümmelung der Universität stimmen! Ich weiss nicht, wie sehr sich Muss. dem alten oder dem jungen Z. verpflichtet fühlt; jedenfalls aber wird der Vergleich (den er selbst letztens vorbrachte) zwischen Z., mir und zwei Heubündeln, und zwischen ihm und dem bekannten philosophischen Grauthier nicht unpassend sein.8

Dass es mir lieb wäre, wenn Sie M. gegenüber von diesem meinem Briefe gar nichts merken liessen, werden Sie begreifen. Und nun verzeihen Sie mir gütigst die lange Erzählung, deren tragischer Held ich selbst bin!

Mit hochachtungsvollem Grusse

Ihr ergebener

Gartner
Wien, 25. Jan. 85.

*) Das ist der Satz, den ich vielleicht nicht richtig verstehe; denn L. berichtet selbst, dass ich 9x1400x67x350 Wörter in meinen Fragebogen habe; er konnte also ausrechnen, wie ich meine Beispiele – ohne Asc. – hätte vervielfältigen können.


1 Vgl. 03390.

2 Carl Wilhelm Böttiger (1807-1878), Prof. in Uppsala, Vf. von Rhetoromanska språkets dialekter: ett språkhistoriskt utkast, Upsala 1854.

3 Ascoli, Saggi ladini, Rom-Turin-Florenz 1873.

4 Vgl. Brief 03384.

5 Wolfram Zingerle (1854-1913) hatte sich 1884 bei Mussafia habilitiert und hielt ab 1886 romanistische Vorlesungen an der Universität Innsbruck, wo er an der Universitätsbibliothek angestellt war.

6 Wohl Joseph Strobl (1843-1924), Prof. d. Germanistik in Czernowitz, zeitweise Dekan.

7 Der Germanist Ignaz Vinzenz Z. (1825-1892) in Innsbruck.

8 Es geht um das Gleichnis von Buridans Esel, der sich nicht zwischen zwei gleich großen Heubündeln entscheiden kann und verhungert.

Faksimiles: Universitätsbibliothek Graz Abteilung für Sondersammlungen, Creative commons CC BY-NC https://creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/ (Sig. 03391)