Anton Bettelheim an Hugo Schuchardt (02-00974)

von Anton Bettelheim

an Hugo Schuchardt

Wien

09. 07. 1883

language Deutsch

Schlagwörter: La folle journée ou le Mariage de Figaro Literaturstudien Histoire de Gil Blas de Santillane Chamfort, Sébastien-Roch-Nicolas de Sainte-Beuve, Charles Augustin Taine, Hippolyte Rochon de Chabannes, Marc-Antoine-Jacques

Zitiervorschlag: Anton Bettelheim an Hugo Schuchardt (02-00974). Wien, 09. 07. 1883. Hrsg. von Frank-Rutger Hausmann (2018). In: Bernhard Hurch (Hrsg.): Hugo Schuchardt Archiv. Online unter https://gams.uni-graz.at/o:hsa.letter.6438, abgerufen am 28. 03. 2024. Handle: hdl.handle.net/11471/518.10.1.6438.


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DEUTSCHE ZEITUNG
WIEN
I. Rathausstrasse 19.
Wien, 9.VII.83.

Sehr geehrter Herr Professor!

Ich bin sehr begierig von Ihnen zu erfahren, woher B. in der f. j.1 I.9 u. II.6 seine Motive hergeholt hat: in der mir bekannten Studie wird deren Provenienz nirgends erwähnt, auch nicht in dem Théâtre complet (Ed. Marescot-d’Heylli)2 – einer Ausgabe, die ich besitze u. die Ihnen natürlich zu Gebote steht, obwol damit nicht viel zu profitiren ist. Weder sachlich, noch textkritisch.

Meine Liebhaberei gilt vor allem den Mémoires im Proceß Goezman:3 für „die Hochzeit des Figaro“ hege |2| ich beiläufig dieselben Gesinnungen, wie Chamfort u. Sainte-Beuve, keineswegs den Enthusiasmus von Taine.4 Die Charaktere sind größtentheils angeregt von Vorgängen unterschiedlicher Art: so ist Cherubin entschieden in „Heureusement“ von Rochon de Chabannes5 vorgezeichnet; das Motiv des klagbaren Eheversprechens Marcellinen‘s hat Beaumarchais zweimal in der eigenen Familie vor sich gesehen (Jal, Dict. critique u. 4e Mém. p. 9);6 ja, vielleicht ist die erste Idee zur Figur des sevillanischen Barbiers bei Beaum. durch die Lectüre des Gil-Blas (II, 6, 7)7 hervorgerufen wurde. Daß B. ohneweiteres fremdes Gut sich aneig- |3| te, ist außer Frage: für die Mém. läßt sich das im Einzelnen nachweisen: für den „Barbier v. S.“ wurde dies wiederholt dargethan: so für die Musiklection (Malade im.)8 (bei Lucas, hist. du theatre français: auch im théatre complet Bd II. S. LX, II/III; u. wenn mir recht ist, auch im Journal von Collé).9 Ich habe des Weiteren auch die Singspiele der Zeit, das théâtre de la foire10 u. dgl. m. daraufhin durchgesehen: denn Beaum. war ein fleißiger Theatergänger, schon als kleiner Junge u. da u. dort hab‘ ich wol in meinen, mir augenblicklich nicht zur Hand liegenden Aufzeichnungen allerlei angemerkt. Am interessantesten wäre es mir aber gewesen, aus spanischen Quellen Aufschlüsse zu bekommen: vielleicht vermitteln Sie mir das in großmütiger Weise.

Im Allgemeinen freilich halt‘ ich nicht gar zu viel |4| von der Belesenheit B.‘s; er besaß die Weisheit der Gasse, war Sprecher der Massen, las, was der Tag brachte oder sein Freund Gudin11 ihm auswählte, auch die Tress’anschen Romane12 (+ was Génin,13 Loménie14 etc. und petit Jehan15 etc. mit Beziehung auf Chérubin sagen, ist Ihnen ja besser bekannt als mir) etc. Ich halte es auch nicht für unmöglich, daß B. den einen u. den andren Streich Cherubins (so also auch die von Ihnen hervorgehobenen Auftritte) aus der Erinnerung an seine eigenen galanten Abenteuer heranzuziehen hatte. Aber nochmals: ich bin ungemein begierig auf Ihre neuen Entdeckungen:16 wie ich wirklich glücklich wäre, Ihre Collegienhefte durchstudieren zu dürfen. Sie wissen ja ohnehin, welch außerordentliche Hochschätzung ich für alle Ihre Arbeiten hege; ein bescheidener Autodidakt in romanischen Dingen weiß ich sehr wol, wie viel mir fehlt, um mein reiches u. neues Material wissenschaftlich u. geistig zu bewältigen. Daher meine arge |5| Saumseligkeit.

Entschuldigen Sie endlich, daß ich erst heute antworte: ich war verreist u. erhielt Ihren liebenswürdigen Brief gerade vor einigen Stunden. Nächster Tage trete ich meinen Urlaub an: meine Adresse für die Zeit vom 15.VII. – 15.VIII. ist Schloß Habrovan, bei Neu-Raussnitz.17

Mit der Versicherung aufrichtiger und dankbarer Ergebenheit

Ihr treuer und eifriger Leser

A. Bettelheim


1 Beaumarchais, La Folle Journée ou le Mariage de Figaro (1875).

2 Pierre Augustin Caron de Beaumarchais, Théatre complet. Réimpressions des éditions princeps avec les variantes des manuscrits originaux , edd. Georges d’Heyli et Fernand de Marescot, Paris 1869-71. – Bettelheim schreibt „d’Heylli“. Vgl. seine Monographie Beaumarchais , München: C.H. Beck, 21911.

3 Vgl. z.B. Louis de Loménie, „ Beaumarchais, sa vie, ses écrits et son temps, d'après des papiers de famille inédits “, Revue des deux Mondes, janvier-mars 1853, t. 1, p. 142-179.

4 Nicolas Chamfort (1741-1794), Charles-Augustin Sainte-Beuve (1804-1869), Hippolyte Taine (1828-1893), alle Drei französische Literaturkritiker.

5 Marc-Antoine-Jacques Rochon de Chabannes (1730-1800), franz. Dramatiker; Heureusement, comédie en 1 acte et en vers, d'après un conte de Marmontel , Paris, Théâtre-Français, 29 novembre 1762.

6 Auguste Jal, Dictionnaire critique de biographie et d’histoire.

7 Alain-René Lesage, Histoire de Gil Blas de Santillane (1715), pikaresker Roman.

8 Molière, Le Malade imaginaire (Theaterstück).

9 Hippolyte Lucas, Histoire philosophique et littéraire du théatre français depuis son origine jusqu'à nos jours, Paris: Gosselin, 1843 (auch spätere Ausgaben); Charles Collé, Journal et mémoires sur les hommes de lettres, les ouvrages dramatiques et les événements les plus mémorables du règne de Louis XV (1748-1772), Paris 1868.

10 „Jahrmarktstheater“, vor allem in Paris, zur Belustigung der Bevölkerung.

11 Paul-Philippe Gudin de La Brenellerie (1738-1820), Theaterautor, Hrsg. der Werke Beaumarchais‘.

12 Louis-Élisabeth de la Vergne, Comte de Tressan (1705-1782/83), franz. Schriftsteller.

13 François Génin (1803-1856), französ. Literaturkritiker, Verf. u. a. von Des Variations du langage français depuis le XIIe siècle ou recherche des principes qui devraient régler l’orthographe et la prononciation, Paris: Firmin Didot, 1845, z.B. S. 369: „Beaumarchais a pris, dans le Petit Jehan de Saintré, deux des principaux personnages du Mariage de Figaro : la comtesse Almaviva et Chérubin ne sont qu’une copie de la jeune Dame des Belles Cousines et du petit Jehan“.

14 Louis de Loménie, Beaumarchais et son temps, Paris: Calman Lévy.1879.

15 Antoine de la Salle, L'Hystoire et plaisante cronicque du petit Jehan de Saintré et de la jeune dame des Belles-Cousines sans aultre nom nommer, 1456.

16 Unklar, worauf sich Bettelheim bezieht. Schuchardt hat sich im Umfeld seiner Reise nach Sevilla für Beaumarchais interessiert.

17 Heute Habrovany, Nový Rousínov, in der Nähe von Vyškov (Wischau). Das Vorwort zur ersten Aufl. von Bettelheims Beaumarchais trägt das Datum Habrovan in Mähren, 11. September 1885. Vgl. Christoph Fackelmann, Literatur-Geschichte-Österreich. Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte. Thematische Festschrift zur Feier des 70. Geburtstags von Herbert Zeman, Wien: LIT-Verlag, 2011, 162. Bettelheim war der Bruder der Schlossherrin Karoline Gomperz-Bettelheim, die mit dem aus Brünn stammenden Textilfabrikanten Julius Gomperz verehelicht war. Das Paar lebte im Herbst und Winter in seinem Palais am Kärtnerring, im Sommer wurde Habrovan zum Familientreffpunkt.

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